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Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Die Auserwählte: Roman (German Edition)

Titel: Die Auserwählte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Bosworth
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aufsteigen und versuchte, tief durchzuatmen, hatte jedoch das Gefühl, keinen Sauerstoff in meine Lunge zu bekommen. Die Hitze in meiner Brust flackerte auf wie glühende Kohle, die noch nicht ganz erloschen war.
    Das Mädchen in Schwarz neigte den Kopf zur Seite und sah mich mit verträumtem Gesichtsausdruck neugierig an. »Alles in Ordnung mit dir?«
    Ich rannte los. Ich musste aus diesem Gang hinaus, weg von all den Toten und Vermissten, die mich von ihren Fotos anstarrten. Weg von dem Gestank der Blumen, die in ein Bestattungsinstitut gehörten und nicht in eine Schule.
    Und mehr als alles andere, aus Gründen, die ich nicht verstand, musste ich weg von dem Mädchen in Schwarz.
    4
    I ch konnte nicht in den Unterricht gehen. Noch nicht. Ich brauchte einen Moment mit mir allein, um mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Zu spät kommen würde ich ohnehin, was machten also schon ein paar zusätzliche Minuten?
    Schließlich fand ich mich in der »Ladys’ Lounge« im ersten Stock wieder. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen war, die Mädchentoilette so zu nennen, als würden einen Samtsofas, Blutorange-Martinis und Bar-Jazzmusik begrüßen, wenn man sie betrat, doch der Name hatte sich gehalten. Trotzdem handelte es sich um eine ganz normale Schultoilette wie jede andere. Graue Wände. Grauer Fußboden. Graue Kabinen. Selbst das flackernde Licht der surrenden Neonröhren an der Decke hatte einen Graustich. Wer wissen wollte, wie er aussehen würde, nachdem er einbalsamiert worden war, brauchte sich nur in einem der Spiegel in der Lounge zu betrachten.
    Vom Tropfen eines undichten Wasserhahns abgesehen war es still, aber ich spähte trotzdem unter den Kabinentüren hindurch, um mich zu vergewissern, dass ich allein war, bevor ich meine Handschuhe auszog. Die Leute fragten sich vermutlich, ob ich unter meiner Bekleidung Schuppen hatte. Fehlanzeige, nur Lichtenberg-Figuren. Das ist der Fachbegriff für Blitzschlag-Narben, die angeblich von Elektronenschauern verursacht werden, die die Haut durchdringen. Bei den meisten Menschen, die vom Blitz getroffen werden, verschwinden diese Narben innerhalb von ein paar Tagen wieder. Bei mir nicht. Sie breiteten sich jedes Mal weiter aus, wenn ich vom Blitz getroffen wurde. Nur mein Gesicht war bisher verschont geblieben, und dafür musste ich dankbar sein. Es war kein schlechtes Gesicht. Große graue Augen. Ein Kussmund. Runde Wangenknochen. Falls ich allerdings wieder getroffen werden sollte, würden die Blitzschlag-Narben aller Wahrscheinlichkeit nach weiterwachsen, und sie konnten sich nirgendwohin ausdehnen außer nach oben.
    Ich ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war, dann spritzte ich es mir ins Gesicht. Das tun Figuren in Spielfilmen auch immer, wenn sie sich überfordert fühlen. Einfach ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzen, ja? Aber irgendwie schaffen es die Frauen immer, ohne sich ihr Make-up zu verpfuschen. Es muss irgendeinen Trick geben, da meine Augen anschließend aussahen wie die einer Heroinabhängigen. Ich versuchte, die Wimpertusche wegzuwischen, die mir an den Wangen hinunterlief, verschmierte sie aber nur noch mehr und machte mir dabei auch noch die Hände schmutzig.
    Dieser Tag wurde einfach immer besser.
    Ich drückte mir Flüssigseife in die Hände und rieb sie aneinander, bis sie schäumten, anschließend rubbelte ich mir mit einer seifigen Fingerspitze die Wimperntusche aus den Augen, bis sie rot und gereizt und ein bisschen grau um die Augenhöhlen waren. Dann spürte ich das Brennen der Seife in den Augen und presste sie zu.
    »Entschuldige, darf ich dich mal was fragen?« Die Stimme war freundlich und forschend und versetzte mich sofort in höchste Alarmbereitschaft. Ich hob mein tropfendes Gesicht und blickte nach oben, um herauszufinden, wer sich von hinten an mich herangeschlichen hatte und in meine intime Distanzzone eindrang.
    Ihre weiße Bluse war am Hals so eng zugeknöpft, dass ich mich wunderte, wie sie überhaupt atmen konnte, und ihr Haar war so streng zurückgebunden, dass ihre Augen aus den Höhlen hervortraten. Ich nahm jedoch an, ihre Augen wären auch ohne den masochistischen Pferdeschwanz und den strangulierenden Kragen hervorgetreten. Sie hatte eine Intensität an sich, eine Leidenschaft, die alle Jünger des Lichts, alle Anhänger von Rance Ridley Prophet, zu besitzen schienen.
    Doch sie hatte nicht immer so ausgesehen. Als ich sie mit zusammengekniffenen Augen im Spiegel musterte, erkannte ich sie. Es kam mir vor, als

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