Die Auserwählte: Roman (German Edition)
alle Brüder und Schwestern«, erwiderte Rachel.
»Hm.« Ich bevorzugte eine weniger inzestuöse Weltsicht, doch diesen Gedanken behielt ich für mich.
Rachel neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. »Mia, darf ich dir sagen, was ich sehe, wenn ich dich anschaue?« Sie wartete nicht auf meine Antwort. »Ein Mädchen mit dem beunruhigten Gesichtausdruck von jemandem, der auf der Suche nach etwas ist.«
Immer gut, wenn man sich schön vage ausdrückt, dachte ich. Aber ich konnte es mir nicht verkneifen anzubeißen. »Nach etwas?«, fragte ich und forderte sie heraus, mich von »etwas« zu überzeugen. Von irgendetwas.
»Wahrheit. Sinn. Trost.« Sie lächelte. »Licht.«
»Alle vier, oder ist das hier eine Multiple-Choice-Aufgabe?«
»In diesen dunklen Zeiten ist jeder von uns auf der Suche nach etwas«, entgegnete sie. »Was auch immer es ist, wonach du suchst, Prophet kann es dir geben. Du brauchst ihn nur darum zu bitten.«
Ich hatte die Nase voll. »Weißt du, was ich möchte? Ich möchte, dass ihr Jünger – und das meine ich ganz nett – mich in Ruhe lasst. Ich habe euch nicht nach Lösungen für meine Probleme gefragt. Außerdem trage ich nie Weiß, also verschwendest du mit mir deine Zeit.«
»Ich glaube, du solltest dir das nochmal überlegen«, sagte Rachel, doch jetzt war ihr Tonfall kalt, beinahe drohend. Sie war mir immer noch nicht aus dem Weg gegangen. Das Gefühl der trocknenden Seife in meinen Handschuhen wurde langsam unerträglich, und die Hitze in mir, die in meiner Brust flackerte wie eine jener Geburtstagskuchenkerzen, die sich einfach nicht auspusten lassen, loderte abermals auf. War man denn an keinem Ort in dieser Schule sicher?
Ich versuchte, mich an Rachel vorbeizudrängen, doch plötzlich lag ihre Hand auf meinem Arm. Ihr Lächeln war verschwunden, aber ihre Zähne waren nach wie vor zu sehen, genau wie das Weiß um die trübe Iris ihrer Augen. Ihre Lippen schälten sich von ihren Zähnen wie Streifen einer getrockneten Frucht. Die Beleuchtung hier drin war einfach schrecklich.
»Du besitzt etwas, das Prophet möchte. Du wirst zu ihm gehen, oder du wirst sterben, wenn das Unwetter kommt und das sechste Siegel vollständig geöffnet wird. Du wirst mit dem Rest der Ungläubigen leiden und sterben, und dann wirst du für immer in der Hölle schmoren. Wenn du das Wort von Rance Ridley Prophet leugnest, leugnest du das Wort Gottes!«
Ich machte eine ruckartige Bewegung mit meinem Arm, um sie abzuschütteln, doch sie hing an mir wie eine Klette.
»Lass. Los«, sagte ich, wobei die Worte nur mit Mühe den Weg durch meine zusammengebissenen Zähne fanden.
Sie ignorierte mich. » Zynikerin .« Sie spuckte das Wort aus, und zwar buchstäblich. Speicheltropfen landeten auf meiner Wange. Ich benutzte meine freie Hand, um sie wegzuwischen, und bebte vor Wut.
Die Hitze, die sich in mir ansammelte, konzentrierte sich auf das Zentrum meiner Brust. Sie schwelte in meinem Herzen wie eine Glut, die jeden Moment in Flammen aufgehen und mich von innen verzehren würde. Zumindest fühlte es sich so an. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund und verströmte einen Geruch, der eine Mischung aus verbrannten Kabeln und Ozon war. Wie in dem Augenblick, bevor ein Gewitter den Himmel spaltet.
Reiß dich zusammen, Mia. Tief durchatmen. Denk an was Schönes. Meditiere …
»Der Tag der Abrechnung steht unmittelbar bevor, und wenn er kommt, wirst du mit den übrigen Zynikern schmoren, die sich weigern, Prophets Warnung Beachtung zu schenken«, fuhr Rachel fort. »Der Zeitpunkt wird kommen, und zwar bald. Du wirst leiden, und du wirst schmoren , und deine Asche wird in der Finsternis verstreut werden! Du wirst …«
Die Tür zur Toilette ging auf.
Herein kam das Mädchen in Schwarz, als hätte es auf den richtigen Moment gewartet.
Ihre roten Lippen kräuselten sich an den Mundwinkeln zu einem zögerlichen Lächeln. Mit einem Finger drehte sie eine ihrer schwarzen Locken. Wenn jemand das genaue Gegenteil eines Jüngers war, dann dieses Mädchen, gekleidet in Schwarz, das an seinen Rundungen haftete wie Farbe, und mit Absätzen an den Stiefeln, die so spitz waren, dass man damit einen Mord hätte begehen können.
Ihr Blick blieb an Rachels Hand hängen. An der Hand, die noch immer meinen Arm gepackt hielt. Das Lächeln des Mädchens verharrte, hatte jedoch nichts Freundliches mehr. Eine glasige Düsterkeit lag in ihren Augen, als handelte es sich bei ihnen um Spiegel, die auf einen
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