Die Auserwählte: Roman (German Edition)
sternenlosen Nachthimmel gerichtet waren. Was auch immer Rachel in diesen Augen gesehen haben mochte, es hatte ihr offenbar nicht gefallen. Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück.
»Du bist eine von ihnen «, sagte Rachel. Ich dachte, sie würde mit dem Mädchen in Schwarz sprechen, aber als ich sie ansah, bemerkte ich, dass ihr vorwurfsvoller Blick auf mich gerichtet war. Ich wusste nicht einmal, wer sie waren.
Rachel und das Mädchen gingen auf Konfrontationskurs. Ich musste an eine Naturdokumentation denken, die ich irgendwann einmal gesehen hatte: Hirschböcke, die wegen einer Hirschkuh ihre Geweihe ineinander verkeilten. Ich kam mir vor wie die Hirschkuh.
»Belästigt dich diese Jüngerin?«, fragte mich das Mädchen in Schwarz.
»Oh, ähm …« Die richtige Antwort wäre eigentlich ein klares Ja gewesen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich die Wahrheit nicht eingestehen. Rachel richtete den Blick auf mich, wartete darauf, dass ich sie verpetzte. Seit das Mädchen in Schwarz die Toilette betreten hatte, war sie wie verwandelt. Sie wirkte verängstigt. Defensiv und trotzig, aber auch verängstigt. »Sie wollte gerade gehen«, sagte ich.
Das Mädchen in Schwarz war nicht überzeugt, sah Rachel mit zusammengekniffenen dunklen Augen an. »Was habe ich dir gesagt?«
Die Jüngerin wich in Richtung Tür zurück. »Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
Das Mädchen in Schwarz machte einen Schritt zur Seite und stellte sich ihr in den Weg. »Bist du dir sicher? Das war nämlich eine ganz einfache Botschaft. Wie wär’s, wenn ich dir einen Tipp gebe?«
»Lass mich in Ruhe«, murmelte Rachel.
»Ach, weißt du was, ich werde es noch einmal wiederholen.« Das Mädchen unterstrich die Äußerung, indem es der Jüngerin mit dem Finger an die Brust tippte. Fest – als wollte es ihr das Brustbein durchlöchern. »Diese Schule ist Territorium der Suchenden. Wir haben zuerst Anspruch auf sie erhoben. Das bedeutet, dass ihr woanders rekrutiert – du und der Rest deiner Schäfchen. Wenn ich dich hier noch einmal dabei erwische, dass du versuchst, Leute zu bekehren, dann hat das Konsequenzen, und ich verspreche dir, die werden dir nicht gefallen.« Das Mädchen kniff Rachel in die Wange und ließ einen roten Fleck zurück. »Gib dir Mühe und merk es dir diesmal.«
Das Mädchen in Schwarz trat zur Seite, und Rachel hastete zur Tür. Dann blieb sie stehen und blickte sich zu mir um.
»Schließ dich ihnen nicht an«, sagte sie. »Komm zu Prophet. Er wird dir vergeben. Was auch immer du getan hast, wie schlimm deine Sünden auch sein mögen, er wird dich aufnehmen. Überleg es dir, Mia. Erlösung. Das ist es doch, wonach du suchst, nicht wahr? Erlösung und Vergebung für das Unrecht, das du getan hast.«
Ich wollte ihr sagen, dass sie den Mund halten solle, doch meine Kehle gab die Worte nicht frei.
Das Mädchen in Schwarz ging einen Schritt auf Rachel zu. »Verzieh dich.«
Rachel plusterte sich auf, und für einen ganz kurzen Moment erkannte ich die einstige Grufti-Teenagerin in ihr, bevor diese von ihrer neuen Identität verschluckt worden war. »Ich habe keine Angst vor dir«, sagte sie. »In dir ist kein Licht. In ihr schon.« Sie deutete mit einem Nicken auf mich. »Das habe ich gespürt. Aber in dir ist kein Licht, Suchende. Du wirst nie mehr als eine Rekrutiererin sein, die sich hinter denjenigen in ihrem Kult versteckt, die über echte Macht verfügen.«
Es schien unmöglich, dass die Augen des Mädchens in Schwarz noch dunkler werden konnten, doch das wurden sie. Es hatte allerdings keine Gelegenheit mehr, um zu antworten. Rachel stürmte durch die Pendeltür. Bevor sie das Weite suchte, erhaschte ich jedoch noch einen Blick von ihrem Nacken. Die Tätowierung mit dem keltischen Kreuz war verschwunden und einem schartigen Fleck Narbengewebe gewichen, als sei sie weggebrannt worden.
Dann war ich mit dem Mädchen in Schwarz allein.
Die Hitze in meiner Brust legte sich, nachdem Rachel gegangen war. Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Was war nur los mit mir? Seit Arizona, seit dem Tag, an dem meine Familie aus der Stadt geflüchtet war, in der wir unser ganzes Leben gewohnt hatten, war ich nicht mehr so nahe dran gewesen, die Kontrolle zu verlieren. Meine Nerven lagen blank. Schon den ganzen Tag. Schon den ganzen Monat.
Überleg es dir, Mia. Erlösung. Das ist es doch, wonach du suchst.
Ein neuer Schauder kletterte meinen Rücken hinauf wie eine Leiter.
»Gottverdammte Jünger«,
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