Die Auserwählte: Roman (German Edition)
würde ich eine jener optischen Illusionen betrachten, bei denen plötzlich ein dreidimensionales Bild aus einem Muster auftaucht. Das Bild, das jetzt vor meinen Augen erschien, war das eines Mädchens namens Rachel Jackson, das in Biologie ein paar Reihen vor mir saß, nur dass die Rachel Jackson, an die ich mich erinnerte, blaue Strähnen in ihrem schwarzen Grufti-Haar und ein keltisches Kreuz auf ihren Nacken tätowiert hatte. Und jetzt war sie eine »Weiß ist das neue Schwarz«-Jüngerin? Vielleicht stand das Ende der Welt tatsächlich kurz bevor.
Ich fragte mich, wie lange sie schon hinter mir stand. Hatte sie die Blitzschlag-Narben an meinen Händen gesehen? Nein, die waren noch immer mit Schaum bedeckt. Ich spülte mir die Hände nicht ab, sondern drehte einfach das Wasser ab und steckte meine seifigen Hände in meine Handschuhe. Als ich das schmatzende Geräusch hörte, zog ich eine Grimasse.
»Entschuldige, darf ich dich mal was fragen?« Rachel stellte die Frage, als wäre es zum ersten Mal.
»Da sind ungefähr noch zehn andere Waschbecken, die du benutzen kannst, weißt du?« Als meine Handschuhe saßen, drehte ich mich vom Waschbecken weg. Unsere Nasen waren fünf Zentimeter von einem Eskimokuss entfernt.
»Ich bin Schwester Rachel«, sagte sie.
Eine meiner Augenbrauen ging hoch. »Ja, ich weiß, wer du bist. Biologie, erinnerst du dich? Das haben wir gemeinsam.« Anscheinend war ich unsichtbar. Aber das war in Ordnung. So wie ich die Dinge in Lake Havasu zurückgelassen hatte, war ich völlig zufrieden damit, den Rest meiner Highschool-Karriere in Anonymität zu leben.
Rachel blinzelte einmal, langsam. »Maja, oder?«
»Mia.«
Sie lächelte. Die Rachel Jackson, die ich kannte, hatte nie gelächelt.
»Tja, Mia …« Ich erriet ihre nächsten Worte, bevor sie sie aussprach. »Ich habe mich gefragt, ob du das Wort von Rance Ridley Prophet als das Wort Gottes anerkannt hast?«
»Nein«, erwiderte ich, »und ich werde es auch nicht …« Sie fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. »Dann würde ich dich gerne heute zu einer mitternächtlichen Erweckungsversammlung in der Kirche des Lichts einladen, die Rance Ridley Prophet höchstpersönlich abhält.« Sie spulte den vorbereiteten Text in einem einzigen Atemzug herunter.
Vor dem Beben hatte es vielleicht drei Schüler gegeben, die das Weiß der Jünger getragen hatten. Damals hatten die meisten zurechnungsfähigen Menschen die Kirche des Lichts für eine weitere Gruppierung radikal-evangelikaler Spinner gehalten. Dann hatte Rance Ridley Prophet in der Stunde des Lichts mehrere Naturkatastrophen und globale Krisen minuziös vorhergesagt, und Menschen auf der ganzen Welt fingen an, ihn und seine Kirche ernst zu nehmen. Nachdem er das Puente-Hills-Beben auf die Minute genau angekündigt hatte, nahmen ihn schließlich auch die Menschen in Los Angeles ernst. Zu ernst.
Ich verstand das Ganze nicht. Prophet hatte also das Erdbeben prophezeit, bevor es stattfand. Kalifornien ist Erdbebengebiet! Jeder wusste, dass das »ganz große Beben« überfällig war. Vermutlich hatte Prophet in seinem Keller einen Wissenschaftler eingesperrt, der die Erdbebenwahrscheinlichkeit berechnete und ihn mit Informationen fütterte. Die Vorstellung, dass Gott Prophet den genauen Zeitpunkt verraten hatte, wann diese verheerenden Ereignisse stattfinden würden, befand sich nicht auf meiner Liste logischer Erklärungen.
Außerdem hegte ich eine besondere Abneigung gegen jede Art von Organisation – religiöser oder sonstiger Art –, die mit dem Finger auf diesen oder jenen zeigte und ihn als böse verurteilte, weil dieser Finger der Verurteilung in der Vergangenheit auch auf mich gezeigt hatte. In Lake Havasu City hatten eine Menge Leute von meiner seltsamen Rolle als menschlicher Blitzableiter gewusst und mich gemieden, doch manche scheuten keine Mühe, um mich wissen zu lassen, dass es angeblich eine Strafe Gottes war, wenn man vom Blitz getroffen wurde, und dass ich etwas Schreckliches getan haben musste, um seinen Zorn verdient zu haben. Meine eigene Großmutter hatte zu diesen Leuten gehört.
Meine Haut juckte von der Seife in den Handschuhen.
Rachel wartete noch immer auf meine Antwort.
»Weißt du, danke für das Angebot«, sagte ich zu ihr, »aber Erweckungen … sind nicht so mein Ding.«
»Bist du dir sicher?«
»Ziemlich sicher. Sehr sicher. Eigentlich hundertprozentig.«
»Schwester Mia …«
»Mia genügt vollkommen.«
»In den Augen des Herrn sind wir
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