Die Auserwählte: Roman (German Edition)
gesehen hatte, da ich mir nicht sicher war, ob ich es wissen wollte.
»Und deshalb bist du mir gefolgt?«, wollte ich wissen. »Und bist in jener Nacht in mein Zimmer gekommen? Weil du ständig Visionen von mir hast und weil du darauf Einfluss nehmen möchtest, wie sie enden?«
»So in etwa.«
»Hat das schon jemals funktioniert?«
»Manchmal.« Seine Stimme war schwer. Ich nahm an, das hieß nicht oft. Doch dann musste ich daran denken, als ich in der Wüste beinahe in den Tod gestürzt wäre. Hatte das, was Jeremy mir gezeigt hatte, den Ausgang beeinflusst? Hatte ich gezögert, wenn auch nur leicht, anstatt einen Schritt in die Kluft zu machen?
Ja, wurde mir bewusst. Ich hatte mich in letzter Sekunde erinnert.
Jeremy hatte mir das Leben gerettet.
Allerdings hätte mir niemand das Leben zu retten brauchen, wenn ich mich erst gar nicht in die Wüste begeben hätte. Wenn ich getan hätte, worum Jeremy mich gebeten hatte.
Er versuchte tatsächlich, mir das Leben zu retten.
Ich betrachtete Jeremy, wie er in meinem Zimmer auf dem Fußboden lag, und das Brennen in meiner Brust wanderte hinunter in meinen Magen und noch weiter, wo es glühte wie heiße Kohlen. Plötzlich hielt ich es für eine schreckliche Idee, dass ich Jeremy in mein Zimmer eingeladen hatte. Ich begehrte ihn zu sehr. Mein Verlangen nach ihm war wie etwas, das nicht zu mir gehörte, wie ein wildes Tier mit einem eigenen Willen, das sich auf die Stäbe des Käfigs stürzte, in dem ich es gefangen hielt, und nach einer Schwachstelle suchte.
Ich kroch unter meine Bettdecke, obwohl ich normalerweise auf ihr schlief, da ich keine zusätzliche Wärme brauchte. Unter der Decke nahm die Hitze in mir noch zu, doch sie war das Einzige, was mich von Jeremy fernhielt, eine leicht zu durchdringende, gepolsterte Wand.
»Gute Nacht, Mia«, sagte Jeremy.
»Gute Nacht, Jeremy«, brachte ich über die Lippen, ohne hinzuzufügen: Ich will dich, ich will dich, ich will dich.
Dann schloss ich die Augen und gab vor zu schlafen. Irgendwann muss aus Heuchelei Realität geworden sein, denn als ich am Morgen die Augen öffnete, fand ich Jeremys provisorisches Bett – abgesehen von einer handgeschriebenen Nachricht auf dem Kopfkissen – leer vor.
Dritter Teil
Die Welt vergeht im Feuer, brennend.
Oder sie erstarrt im Eis.
Die Hitze der Begierde kennend,
Seh’ ich ihr Ende eher brennend.
Robert Frost,
Feuer und Eis
16. April
Ein Tag vor dem Unwetter …
27
Mia,
du schläfst also doch. Bitte entschuldige, dass ich gegangen bin, ohne mich zu verabschieden, aber ich wollte dich nicht wecken. Ich habe heute ein paar Dinge zu erledigen, aber anschließend muss ich dich unbedingt sehen. Können wir uns nach der Schule treffen? Es ist wichtig.
Jeremy
Ganz unten hatte er eine Adresse hingekritzelt.
Ich steckte den Zettel in die Hosentasche, bevor ich zum Frühstück nach unten ging.
Ich war so abgelenkt von meinen Gedanken an Jeremy und seiner Bitte um ein Treffen, dass mir die Auseinandersetzung, die ich mit Mom in der Garage gehabt hatte, erst wieder einfiel, als ich die Küche betrat. Sie saß am Tisch und starrte eine leicht verbrannte, erbärmlich aussehende Scheibe Toast an, von der nur einmal abgebissen worden war.
Ich betrachtete Mom einen Moment lang und wartete darauf, dass sie mich zur Kenntnis nahm. Sie wirkte nicht so aufgeräumt wie am gestrigen Morgen. Sie trug noch ihren Bademantel, und ihr Haar war vom Schlaf zerzaust.
Während ich Mom beobachtete, kullerte eine Träne an ihrer Nase hinunter und fiel auf ihren Toast. Sie weinte.
»Mom?«, sagte ich.
Sie hob ruckartig den Kopf und wischte sich kurz über die Wangen. Ihre verquollenen Augen konnte sie jedoch nicht unsichtbar machen. »Mia.« Ihre Stimme klang belegt. »Ich dachte, du wärst schon gefahren. Parker ist bereits weg.«
Ich blinzelte überrascht. »Hat er den Bus genommen?«
»Er hat gesagt, dass er bei einem Schulfreund mitfährt. Bei wem, hat er nicht gesagt.« Sie schüttelte den Kopf und sprach zu ihrem Toast. »Ich habe nicht mal dran gedacht nachzufragen. Ich bin eine schreckliche Mutter, nicht wahr?«
Ein Schulfreund … Mir gefiel nicht, wie das klang, aber dass ich mir Sorgen um Parker machte, konnte warten.
Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich neben Mom. »Warum weinst du?«
Sie antwortete nicht, doch ihre Hände wurden unruhig, ihre Finger verhedderten und entwirrten sich wieder. Aus einem Impuls heraus griff ich hinüber und nahm ihre Hände in meine. Sie
Weitere Kostenlose Bücher