Die Auserwählte: Roman (German Edition)
blickte überrascht auf. Ich sah ihr in die Augen, wirklich in die Augen, wie ich es vielleicht noch nie zuvor getan hatte, und erkannte darin dieselbe unermessliche Traurigkeit, die ich auch in Jeremys gequältem Blick sah. Ich hatte das Gefühl, in die Kluft in der Wüste zu starren, in die ich beinahe gefallen wäre. Es ging tief, tief hinunter, und der Boden war nirgendwo zu sehen. Mit einem Mal wurde mir etwas bewusst: Diese Traurigkeit hatte nicht nur etwas mit Moms Trauma während des Bebens zu tun oder damit, dass sie einen Menschen verloren hatte, der ihr etwas bedeutete. Sie hatte sich über Jahre hinweg aufgestaut. Es ging dabei um meinen verstorbenen Vater, an den ich mich kaum noch erinnern konnte, den Ehemann, den Mom niemals vergessen würde und um den sie immer trauern würde. Es ging um den jahrelangen Kampf, den sie geführt hatte, nachdem er ihr weggenommen worden war. Um die vielen Male, die sie mich beinahe an einen Blitz verloren hätte. Um all das, was sie in Lake Havasu City zurückgelassen hatte, um in einer Stadt wieder neu anzufangen, in der sie niemanden kannte.
Warum war mir nicht schon früher aufgefallen, wie unglücklich Mom war? Wie unglücklich sie schon seit Langem war?
Weil sie es vor mir verborgen hatte und vor Parker ebenfalls. Deshalb. Weil sie uns nicht mit ihren Problemen hatte belasten wollen. Das war mir nicht fremd. Ich hatte umgekehrt dasselbe versucht.
»Mom, was ich gestern zu dir gesagt habe, tut mir leid.« Mir schnürte es die Kehle zusammen. »Es tut mir so sehr leid.«
Aus ihren Augen quollen Tränen. Sie drückte meine Hände und brachte keinen Ton heraus, deshalb nickte sie nur, und ich fuhr fort.
»Alles wird besser, das verspreche ich dir. Ich werde dafür sorgen, okay? Wir finden schon eine Lösung.« Ich hatte diese Worte schon so oft benutzt, doch sie waren nicht mehr hohl. Nicht mehr bedeutungslos. Ich hatte fest vor, mein Versprechen einzulösen, und wollte, dass Mom mir dieses Mal glaubte.
Sie hörte nicht auf zu nicken. »Okay … okay.«
Ich stand auf und zog sie auf die Beine, warf mich in ihre Arme und ließ mich von ihr halten und wiegen, wie sie es getan hatte, als ich jünger gewesen war, als ich eine völlig andere Version von mir selbst gewesen war. Beide von uns frühere Ausgaben unser selbst. Wer waren wir jetzt?, fragte ich mich. Wer würden wir werden, wenn die Welt, die wir kannten, nicht mehr existierte?
Ich hatte keine Antworten, war jedoch entschlossen zu tun, was ich Mom versprochen hatte. Ich würde dafür sorgen, dass alles besser wurde. Ich wusste zwar nicht, wie, doch das war es, was ich mir vorgenommen hatte.
»Du musst jetzt los«, sagte Mom nahe an meinem Ohr. Ihre Stimme war nicht viel mehr als die Andeutung eines Flüsterns. »Auf Wiedersehen, Mia.«
Ich ließ sie nur widerwillig los, trotzdem musste ich in die Schule. Von jetzt an würde ich alles richtig machen, würde handeln, als hätte ich eine Zukunft, anstatt durchs Leben zu wandeln und darauf zu warten, dass der nächste Blitz ein Loch in meine Welt brennt.
Ich hatte eine Zukunft, und ich war fest entschlossen, dass sie nichts mit dem Tower oder dem Unwetter zu tun haben würde. Jeremy zufolge war meine Zukunft nicht in Stein gemeißelt.
Erst als ich im Auto saß und auf dem Weg zur Schule war, dachte ich darüber nach, wie Mom mich verabschiedet hatte und dass ihr Tonfall etwas Endgültiges gehabt zu haben schien, als würde es sich um einen letzten Abschied handeln.
Doch dann kurbelte ich mein Seitenfenster herunter, um frische Luft zu schnappen, und der Fahrtwind ließ meine Haut kribbeln, als würden sich auf einmal Tausende winzige Nadeln in mich bohren. Ich wäre beinahe von der Straße abgekommen, so sehr beeilte ich mich, um das Fenster wieder hochzukurbeln. Ich bremste gerade noch rechtzeitig an einem Stoppschild, dann saß ich einfach da und atmete schnell und abgehackt, während ich meine Haut rieb, um das latente Kribbeln zu lindern.
Und ich vergaß mein ungutes Gefühl, dass mit Mom schon wieder etwas nicht stimmte.
Am Morgen hatte ich mir wie immer die Wettervorhersage angesehen, und nichts hatte sich verändert. Jede Wetterseite im Internet sagte Sonne und noch mehr Sonne voraus.
Doch meine Haut sagte mir, dass das Unwetter näher war als je zuvor.
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E in paar Minuten nach dem letzten Läuten der Schulglocke an der Skyline-Highschool ertappte ich mich dabei, dass ich in Mr Kales Klassenzimmer herumstand. Nun ja, eigentlich ertappte ich
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