Die Auserwählte: Roman (German Edition)
reingehen«, sagte Jeremy. »Wir können uns drinnen unterhalten.«
Ich drückte auf den Lichtschalter im Hausflur, aber nichts tat sich. Der Strom war abgeschaltet, und die Sonne war untergegangen und ließ nichts als Schatten zurück.
Jeremy fand sich mühelos in dem dunklen Haus zurecht, und einen Augenblick später hörte ich das Kratzen eines Streichholzes. Er zündete mit der Flamme eine Reihe von Kerzen auf dem Kaminsims an. Dann legte er ein paar Holzscheite auf die Feuerstelle, knüllte Papier zusammen, und binnen Minuten brannte ein Feuer.
Ich sah ihm schweigend zu, bis er fertig war. Sobald das Wohnzimmer erhellt war, trat ich einen Schritt vor und drehte mich einmal im Kreis, um mich umzublicken. Viel gab es nicht zu sehen. Das einzige Möbelstück war eine klobige Couch mit einem ramponierten Schonbezug, die gegenüber vom Kamin stand. Kein Fernseher, keine Bücherregale, keine Bilder an den Wänden. Der einzige Gegenstand im Raum, der herausstach, war eine schwarze Ledertasche, die aussah wie eine Motorrad-Satteltasche. Ich nahm an, dass sie Jeremy gehörte, der noch immer vor dem Feuer kauerte und in die Flammen starrte. In seinen Augen flackerte orangefarbenes Licht.
»Wohnst du hier?«, fragte ich, wobei ich mir Mühe gab, nicht ungläubig zu klingen. Das kleine Haus wirkte leer und traurig.
»Nein.« Jeremy blies ins Feuer, und die Flammen loderten auf. Er schichtete die glühenden Holzscheite mit einem schmiedeeisernen Schürhaken um. »Die Leute, die hier gewohnt haben, sind nach dem Beben ausgezogen.«
»Dann hast du es also einfach übernommen und dich hier breitgemacht?« Ich wäre stinksauer gewesen, wenn das jemand mit unserem Haus gemacht hätte.
»Ich habe hier früher mal gewohnt. Vor langer Zeit, mit meiner Mom.« Er richtete den Blick zur Decke, als würde er dort etwas sehen, das ich nicht sehen konnte. »Das war unser Haus, bevor sie gestorben ist. Ich bin nach dem Erdbeben hierhergekommen, um mich zu vergewissern, dass es noch steht. Es war leer, deshalb bin ich regelmäßig hergekommen. Um zu entfliehen.«
Ich setzte mich auf die klobige Couch. »Um wovor zu entfliehen?«, fragte ich.
Jeremys Hals verkrampfte sich, bis ich sehen konnte, wie sich die Muskeln unter der Haut anspannten. »Vor meiner Familie. Vor allem vor meinem Vater. Ich hasse ihn. Ich hasse sie alle.« Er sprach durch zusammengebissene Zähne und mit großer Verbitterung. Seine Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte er den Schürhaken, und ich befürchtete, er würde jeden Moment damit ins Feuer stechen. Doch dann warf er mir einen Blick zu und erkannte offenbar an meinem Gesichtsausdruck, dass er mich mit seiner Reaktion beunruhigt hatte. Meine Mom und Parker hatten mich in letzter Zeit mehr als einmal auf die Palme gebracht, aber nicht so. Ich hatte nie einen von beiden auch nur für einen Moment gehasst .
»Entschuldige.« Jeremy ließ den Schürhaken sinken und setzte sich neben mich auf die Couch – nahe genug, dass ich die Hitze spüren konnte, die er ausstrahlte. Es fühlte sich an, als säße ich neben dem Feuer. Mein Körper wollte mit seinem Körper verschmelzen.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich zu ihm. »Jede Familie hat ihre Probleme.«
»Wir haben auf jeden Fall eine Menge Probleme, aber ich habe dich nicht gebeten hierherzukommen, um mit dir darüber zu sprechen.« Ich schwieg einen Moment und konnte beinahe sehen, wie sein Gehirn arbeitete, wie er nach einer Möglichkeit suchte, um das zu sagen, was er sagen wollte. Was er schon zu lange für sich behalten hatte.
»Ich möchte dich etwas fragen.« Er drehte sich zu mir. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde versuchen, mich zu küssen. Ich verkrampfte mich, wollte, dass er es tat, wollte nicht, dass er es tat. Solange er mich nicht anfasste, würde ich auch den Tower nicht sehen, oder etwa doch? Vielleicht würde ich den Tower ohnehin nie wiedersehen, nachdem ich die Karte der Liebenden gezogen hatte. Madam Lupescu hatte gesagt, ich hätte die Wahl, und ich hatte mich entschieden. Ich hatte die Karte gestohlen.
»Frag mich«, sagte ich und beugte mich vor, bis mein Mund Jeremys Mund fast berührte. Ich wartete darauf, dass er die Lücke schloss.
»Ich möchte, dass du …« Ich spürte den Luftzug seiner Worte auf meinen Lippen. Ein Frösteln durchfuhr mich.
»Du möchtest, dass ich …«, wiederholte ich und atmete ihn ein. Die Liebenden, dachte ich. Das ist meine Wahl. Das ist meine
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