Die Auserwählte
Allan nennt es meinen »Prediger-Aufzug«.
»Ich bin sicher, alle freuen sich schon auf das Fest, Großvater«, erwiderte ich.
»Gut, freut mich zu hören«, sagte er. »Also, du bist unterwegs nach Dunblane, ja?«
»Ja, Großvater.«
»’wirst du heute nachmittag wieder herkommen?« fragte er. »Ich habe mir noch einige Zusätze für die Neufassung überlegt.«
»Natürlich«, erklärte ich. Ich hatte Großvater bei der Niederschrift der, wie wir alle vermuten, wohl endgültigen Fassung unserer Heiligen Schrift, Die luskentyrische Orthographie, geholfen, die einer Art göttlich inspirierter, fortlaufender Überarbeitung unterzogen wurde, seit Großvater das Werk 1948 begonnen hatte.
»Schön«, sagte er. »Nun, viel Spaß… was immer du haben magst, wenn du die Orgel spielst.« Er lächelte. »Geh mit Gott, Isis. Und sprich nicht mit zu vielen Fremden.«
»Danke, Großvater. Ich werde mir alle Mühe geben.«
»Ich meine es ernst«, erklärte er und sah mich mit einem Mal besorgt an. »Ich hatte in der letzten Zeit diese… Vorahnungen über Reporter.« Er lächelte unsicher.
»War es eine Vision, Großvater?« fragte ich und versuchte, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
Visionen waren von Anfang an sehr wichtig für unseren Glauben. Alles hat mit einer Vision begonnen, die mein Großvater vor nunmehr siebenundvierzig Jahren hatte, und es waren seine daran anschließende Visionen, die unsere Kirche sicher durch die stürmischen und wechselvollen frühen Jahre führten. Wir glaubten, vertrauten und huldigten den Visionen unseres Gründers, obgleich sie – vielleicht einfach ob seines fortgeschrittenen Alters, wie er selbst freimütig bekannt hatte – über die Jahre immer seltener und weit weniger dramatisch geworden waren.
Er sah mich einen Moment lang verärgert an, dann wehmütig.
»Ich würde es nicht mit einem so großen Wort wie Offenbarung oder Vision bezeichnen«, erklärte er. »Es ist einfach nur eine Ahnung, verstehst du?«
»Ich verstehe«, sagte ich und versuchte, beschwichtigend zu klingen. »Ich verspreche, ich werde auf mich achtgeben.«
Er lächelte. »Braves Mädchen.«
Ich nahm meinen Hut und verließ das Cogitarium. Die Schwestern hatten das nunmehr trockene und sauber riechende Badezimmer verlassen. Ich stieg in die weiche Gebirgslandschaft des Schlafzimmers hinab und durchquerte es im Dunkeln. Ich griff meine Stiefel, die auf dem Fußboden des Wohnzimmers standen.
»Wie geht es ihm heute morgen?« erkundigte sich Erin von ihrem Schreibtisch neben der Tür, während ich mir die Schuhe zuschnürte. Schwester Erin betrachtete meine Stiefel mit einer Miene, als hätte sie etwas Ekliges unter den Sohlen entdeckt.
»Er ist in ausgezeichneter Stimmung, würde ich sagen«, erwiderte ich und erntete dafür ein recht eisiges Lächeln.
*
»Hallo, Is«, sagte Allan, als wir gleichzeitig aus den gegenüberliegenden Türen auf den Flur traten.
Mein älterer Bruder ist hochgewachsen und kräftig, hell in Haar und Haut; wir haben dieselbe Augenfarbe, obwohl seine Augen durchdringender zu sein scheinen. Er hat ein rundes Gesicht und ein freundliches, selbstsicheres Grinsen. Allans Blick hat die Angewohnheit, unstet hin und her zu wandern, während er mit jenem gewinnenden Lächeln auf dich einredet – er schaut dich nur gelegentlich an, um sich zu vergewissern, daß du auch immer noch zuhörst, und sieht dir nur in die Augen, wenn er dich von seiner Aufrichtigkeit überzeugen will. Allan behauptet, er würde sich, wie wir alle, in den Wohlfahrtsläden in Stirling einkleiden, obgleich sich manch einer von uns schon gefragt hat, wie es ihm wohl gelingt, mit so bemerkenswerter Regelmäßigkeit perfekt sitzende dreiteilige Anzüge und elegante Blazer zu finden. Aber wenn wir ihn auch gelegentlich ungnädig der Eitelkeit verdächtigen, so besänftigt es uns doch wieder zu sehen, daß er, wenn er für die Gemeinde unterwegs ist, einfache, zerschlissene und abgewetzte Kleider vorzieht. An jenem Morgen trug er verwaschene Jeans mit einer Bügelfalte und ein Tweedsakko über einem karierten Hemd.
»Guten Morgen«, begrüßte ich ihn. »Bernie sagte, daß du mich sprechen wolltest?«
Allan zuckte lächelnd die Schultern. »Oh, es war nichts Wichtiges«, sagte er, während er mit mir die Treppe hinunterging. »Wir hatten nur gerade erfahren, daß Tante Birgit nicht zum Fest kommen würde, das war alles; ich dachte, du könntest es ihm sagen.«
»Oh. Nun, das ist schade. Aber du wirst
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