Die Auserwählte
glaube nicht, daß wir ihr je wirklich vertrauten, und wie sich herausstellte, recherchierte sie tatsächlich nur für ein Buch über uns. Offenkundig war es ebensowenig wahrheitsgetreu wie erfolgreich.
(Glücklicherweise fiel dieses sensationslüsterne und schmähliche Interesse nicht in die Zeit unseres alle vier Jahre stattfindenden Fests der Liebe, wenn alles eindeutig auf die Fleischeslust ausgerichtet ist und wir uns ein wenig mehr dem Bild entsprechend verhalten, das die Öffentlichkeit sich damals von uns machte… obwohl ich in aller Ehrlichkeit berichten kann, daß ich beim letzten Mal, obschon bereits fünfzehn – und voll ausgereift –, in keinster Weise an den Feierlichkeiten teilhatte, sondern ausdrücklich von ihnen ausgeschlossen war, eben weil ich noch nicht das von der Außenwelt für angemessen erachtete Mündigkeitsalter erreicht hatte. Damals empfand ich durchaus eine gewisse Verärgerung und Enttäuschung ob des Ausschlusses, auch wenn ich jetzt, da das nächste Fest kurz bevorsteht und ich wohl all die Aufmerksamkeit auf mich ziehen werde, die ich mir nur wünschen könnte, eingestehen muß, daß meine Gefühle sich etwas gewandelt haben.)
Jedenfalls sind wir nun auf der Hut. Wir sehen uns vor, wann immer irgendein neuer Wahrheitssuchender an unsere Tür klopft und wann immer wir außerhalb der Grenzen unseres Anwesens unterwegs sind.
Meine Gedanken wanderten zu meiner Großmutter mütterlicherseits, Yolanda. Man hatte uns vorgewarnt, daß irgendwann in den kommenden Wochen, vor dem nächsten Fest der Liebe, einer ihrer jährlichen Besuche bevorstand. Yolanda ist eine von der Sonne gegerbte, doch markig-gesunde Texanerin Anfang Sechzig, die über unerschöpfliche Geldmittel und eine recht farbige Ausdrucksweise verfügt (»Nervöser als eine Klapperschlange in einem Raum voller Schaukelstühle« ist einer ihrer Sinnsprüche, die mir immer im Gedächtnis geblieben sind). Sie ist unserer Gemeinschaft zur selben Zeit beigetreten wie ihre Tochter, Alice (meine Mutter), obgleich sie niemals länger als zwei Wochen am Stück in der Gemeinde verweilt hat, einmal abgesehen von zwei jeweils dreimonatigen Aufenthalten, nachdem erst Allan und dann ich geboren wurden.
Sie hat sich nie wirklich mit Salvador verstanden, vielleicht, weil sie beide so starke Charaktere sind, und über die letzten Jahre hat sie es vorgezogen, im Gleneagles Hotel – bei Yolandas Fahrweise nur zwanzig Minuten von hier entfernt – zu wohnen und uns täglich zu besuchen, um Selbstverteidigungskurse für Frauen abzuhalten; ihr verdanke ich meine Fertigkeiten im zielgenauen Weitspucken, im texanischen Bein-Ringen und anderen Arten der Selbstverteidigung mit besonderer Berücksichtigung der verletzlicheren und empfindlicheren Regionen eines Mannes. Dank ihr bin ich vermutlich der einzige Mensch in meiner Umgebung, der einen Schlagring mit kombiniertem Flaschenöffner besitzt, selbst wenn er auf immer unbenutzt ganz unten in der Unterwäscheschublade in meinem Schlafzimmer ruht.
Ich hege die Vermutung, daß Yolanda zumindest teilweise vom Glauben abgefallen ist (ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit läßt sie sich über dieses Thema nur ungern aus), aber ich kann nicht leugnen, daß ich mich darauf freute, sie wiederzusehen, und eine angenehme Erregung ob der Aussicht verspürte.
Ich dachte auch über Allan nach und darüber, wie er sich in den letzten Jahren verändert hatte, seit Schwester Amanda ihm Mabon, einen Sohn, geschenkt hatte. Es war, als ob er im Umgang mit uns und insbesondere mit mir zurückhaltender geworden wäre, als würde er uns distanzierter, weniger warmherzig behandeln, als ob sein Reservoir an Fürsorge und Liebe erschöpft wäre von den Anforderungen, die Amanda und das Baby daran stellten. Außerdem hatte er die Angewohnheit entwickelt, es mir zu übertragen, Großvater schlechte Neuigkeiten zu überbringen, immer mit der Behauptung – wie auch an jenem Morgen –, daß mein besonderer Status und möglicherweise mein Geschlecht Salvador veranlaßten, mir gegenüber größeres Wohlwollen walten zu lassen, und sich somit die Chancen erhöhten, daß seine Reaktion auf die schlechte Kunde weniger aufbrausend (und gesundheitsgefährdend) war.
Ein Stück jenseits der Grenzen unserer Ländereien fiel mir plötzlich ein, daß ich etwas Wichtiges vergessen hatte, und ich blieb kurz stehen, um in meine Tasche zu greifen und eine kleine Phiole hervorzuholen; ich öffnete sie, stippte meinen Finger hinein
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