Die Auserwählte
kann, diese ganze traurige Angelegenheit vielleicht für sich aufklärt, ganz sicher, damit er in Ruhe nachdenken kann und, um ganz ehrlich zu sein«, er sah von Erin zu mir und wieder zurück, »damit wir ihn bearbeiten können, so daß wir vielleicht, nun, am Ende… zu einer Lösung kommen«, sagte er und hustete, so als würde er den Laut benutzen, um damit die Wiederholung zu verdecken.
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Und es wäre gleichzeitig auch ein Urlaub!« warf Onkel Mo ein.
»Nun, natürlich«, pflichtete ich bei.
»Trotzdem«, gab Erin zu bedenken. »Schwester Isis ist gerade von ihrer Reise zurückgekehrt. Vielleicht ist sie müde.« Sie lächelte mich an.
»Ganz und gar nicht«, widersprach ich.
»Na also«, sagte Onkel Mo, als wäre es damit beschlossene Sache.
Ich nickte. »Nun, ich kann sehen, daß es vielleicht gut wäre, eine Weile fortzugehen, aber ich würde es mir gern noch einmal durch den Kopf gehen lassen.«
Allan nickte. »Gute Idee; schlaf eine Nacht darüber.«
»Prächtig!« rief Onkel Mo begeistert.
Erin warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims hinter Allans Schreibtisch. »Nun, es ist spät«, bemerkte sie.
Wir kamen alle überein, daß es in der Tat schon spät und Zeit fürs Bett sei. Als wir das Büro verließen, warf ich abermals einen Blick auf den Schreibtisch neben der Tür, wo ich vorhin die Liste mit den Namen und Adressen gesehen hatte, aber der Schreibtisch war aufgeräumt worden, und nun lagen keine Unterlagen mehr darauf.
Nachdem wir alle das Büro verlassen hatten, schloß Allan die Tür hinter uns ab.
*
Ich lag in meiner Hängematte in meinem Zimmer, mein Mund wie ausgetrocknet, meine Hände schweißnaß, während mein Herz wie wild pochte. Ich hatte in einem Zustand wachsender Beklommenheit und Erregung wohl knapp zwei Stunden gewartet, doch nun mußte ich handeln, und ich war so nervös wie noch nie zuvor in meinem Leben.
»Gott«, flüsterte ich in der Dunkelheit. »Vergib mir und hilf mir bei meinem Vorhaben.«
Ich hatte noch immer nicht die Stimme vernommen. Ich wußte, daß Gott noch immer da war, daß er noch immer zu mir sprach – oder zumindest zu mir gesprochen hätte, hätte ich nur meine aufgewühlte Seele beruhigen können. Ich war nicht sicher, ob es einen Sinn hatte, Gott um Hilfe zu bitten – gemeinhin greift Er nicht in Geschehnisse auf dieser Ebene ein –, doch wenn Er, dadurch angeregt, weiter zu mir sprechen sollte, dann würde ich vielleicht etwas hören, das mir möglicherweise in den nächsten ein, zwei Stunden von Nutzen sein konnte.
Mein Großvater hatte die Stimme Gottes, die zu einer Menschenseele sprach, einmal mit der Spiegelung des Mondes auf dem Wasser verglichen; wenn das Wasser vollkommen still ist, sieht man den Mond ganz klar und unverzerrt. Wenn das Gewässer der Seele etwas unruhig ist, ist der Mond immer noch erkennbar, aber er bewegt sich und zittert, und es ist sehr schwer, Einzelheiten an ihm auszumachen. Wenn das Gewässer der Seele aufgewühlt ist wie von einem Sturm, dann bricht sich die einzelne, hell leuchtende Scheibe des Mondes in Tausenden von funkelnden Lichtpunkten, die seinen Schein in einem sinnlosen Haufen verstreuter Reflexe widerspiegeln, den der Beobachter vielleicht nicht einmal mehr als Mondschein erkennen kann.
Nun, im Moment war die Oberfläche meiner Seele sehr wohl aufgewühlt, und es hätte mich nicht überraschen sollen, daß ich die Stimme Gottes nicht empfangen konnte. Dennoch traf mich der Verlust tief, und ein schmollenden, kindischer Teil von mir interpretierte es als eine weitere Zurückweisung. Ich seufzte.
»Auf geht’s«, flüsterte ich (wenn auch diesmal nicht wirklich an den Schöpfer gerichtet) und stand auf.
Ich zog mich an, schnitt mit einem Taschenmesser ein Stück von einer Kerze ab, dann steckte ich das Messer, den Kerzenstumpen und eine Schachtel Streichhölzer in die Tasche. In einer anderen Tasche hatte ich schon einen Bleistift und ein Blatt Papier. Um mein blondes Haar zu verhüllen, setzte ich die alte Mütze auf, die ich nicht mehr getragen hatte, seit ich vierzehn war – sie war etwas zu klein für mich, aber das bedeutete auch, daß sie mir nicht so leicht vom Kopf rutschen würde. Ich preßte mein Ohr an die Tür und horchte, konnte aber niemanden umhergehen hören. Ich verließ mein Zimmer und ging auf die Toilette; ich hatte das ohnehin vorgehabt, um mit dem Geräusch der Spülung meine Schritte auf dem Flur zu übertönen, aber als es nun soweit
Weitere Kostenlose Bücher