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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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doch noch beim Fest sehen?… Das war ein Scherz. Ich wette, das wird sie sicher… Oh, es wird immer verrückter; das letzte war, daß sie eine Privataudienz beim Alten hatte und sich ihm an den Hals geworfen hat; hat versucht, ihn dazu zu kriegen, sie zu vögeln. Kannst du dir das vorstellen?«
    Was? Meine Kinnlade klappte herunter, und mir wurde schwarz vor Augen, während ich die Tür anstarrte; ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte. Was unterstellte man mir jetzt? Ich hätte versucht, meinen Großvater zu verführen, wo doch tatsächlich er es gewesen war, der mich praktisch hatte vergewaltigen wollen? Wenn ich eine Minute zuvor noch das Gefühl gehabt hatte, Eiswasser würde in meinen Adern fließen, so hatte es sich jetzt mit einem Schlag in kochendheißen Dampf verwandelt. Welcher Verrat! Welche Verleumdung! Welche Verlogenheit! Das war… das war teuflisch.
    »… Ich weiß, ich weiß«, sagte Allan. »… Nun, natürlich war niemand sonst dabei, Morag, aber ich glaube Großvater, du nicht auch?… Ja, ganz genau… Ja… Ich kann nicht… Nein. Keine Ahnung… Ja, mir auch. Entschuldige, daß ich erst so spät angerufen habe… Was?… Nein, für dich wahrscheinlich nicht, aber für uns. Nun, dann…«
    Ich hatte genug gehört. Ich war auf dem Rückweg zu meinem Versteck hinter den Vorhängen nicht ganz so sicher auf den Beinen, wie ich es beim Hinweg gewesen war, aber ich schaffte es dorthin, ohne irgend etwas anzurempeln. Ich schlüpfte wieder hinter die Vorhänge und richtete den Spalt, bis er wieder ganz genauso wie vorher war.
    Die Abstellraumtür ging auf, und Allan kehrte mit seiner Paraffinlampe und dem kleinen tragbaren Telefon zurück, in jeder Hand ein anderes Jahrhundert. Er legte das Telefon wieder zurück in die Schreibtischschublade, schloß sie ab und verließ – einmal abgesehen von einem erneuten überprüfenden Schnüffeln der Luft, das ihn zu befriedigen schien – ohne weiteres Aufhebens das Büro. Ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und horchte auf Allans Schritte, als er die Treppe hinauf zurück zu seinem Zimmer ging.
    Ich stand eine Weile da und zitterte, als würde ich frösteln.
    Mein Bruder erzählte Morag also Lügen über mich. Ich hatte den deutlichen Eindruck, daß es auch nicht die ersten waren. Und wie lange war er schon in der Lage, sie anzurufen? Warum hatte er nichts über ihre Abkehr vom Glauben gesagt? Abermals schien mir der Boden unter den Füßen wegzukippen, meine ganze Welt war aus dem Gleichgewicht geraten, gänzlich außer Rand und Band, durchgedreht.
    Wie benommen trat ich hinter den Vorhängen hervor. Ich schnitt ungläubige Grimassen ins Dunkel. Hatte ich wirklich gehört, was ich gerade gehört hatte? Ich schüttelte den Kopf. Doch hier und jetzt war nicht der Ort, um herumzustehen und darüber nachzugrübeln, was eigentlich vor sich ging.
    Ich riß mich so gut wie möglich zusammen und zündete abermals meine Kerze an – wobei ich diesmal mit der Hand wedelte, um den Rauch zu vertreiben –, dann wandte ich mich wieder dem Schreibtisch an der Tür zu.
    Die Liste, die ich suchte, lag in einem Ordner in der untersten Schublade. Ich notierte Morags Telefonnummern wie in einem Nebel, mein Verstand noch immer wie betäubt von dem, was ich gerade gehört hatte. Fast hätte ich das Blatt Papier geradewegs zurück in seinen Ordner gelegt und mit einer solchen Nichtigkeit womöglich das gesamte Schicksal und die Zukunft unseres Glaubens anders beeinflußt.
    Aber statt die Liste gleich zurückzulegen, las ich auch noch die anderen Namen und Adressen durch.
    Und sah, daß es einen Eintrag für Großtante Zhobelia gab, von der man uns immer erzählt hatte, sie sei fortgegangen, um ihre Angehörigen zu suchen – und vielleicht eine Versöhnung zu bewirken –, und dann schlicht und einfach verschwunden. Großtante Zhobelia, von der Großmutter Yolanda überzeugt war, sie hätte einmal… etwas angedeutet. Da war etwas, soviel ist mal sicher, hatte sie gesagt. Bei Gott, ich hätte im Moment wirklich etwas Sicheres in meiner Welt gebrauchen können. Es war keine direkte Adresse für Zhobelia aufgeführt, nur eine Notiz, die besagte, man könne sie »über Onkel Mo« erreichen.
    Ich starrte auf die Liste. Was würde ich noch finden?
    Halb erwartete ich die vollen Adressen und Telefonnummern von Tante Rhea und vielleicht sogar Salvadors Familie, aber es gab keine weiteren Überraschungen. Ich durchstöberte einige weitere Ordner und

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