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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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blätterte alle losen Papiere durch, für den Fall, daß sie weitere Offenbarungen bargen, aber ich glaube, an jenem Punkt verließ mich mein Mut; meine Hände zitterten. Ich richtete den Schreibtisch wieder so her, wie ich ihn vorgefunden hatte, und nahm meine Kerze hoch, diesmal jedoch vorsichtiger.
    Ich ging zu Allans Schreibtisch und zog an den Schubladen, doch sie waren alle abgeschlossen, und ich konnte nirgends einen Schlüssel entdecken; ich vermutete stark, daß der einzige Schlüssel um Allans Hals baumelte. Meine Zähne fingen an zu klappern, obwohl mir nicht kalt war. Die Uhr auf dem Kaminsims sagte mir, daß es eine halbe Stunde nach Mitternacht war. Ich beschloß, den Rückzug anzutreten.
    Ich überlegte kurz, die Kerze brennen zu lassen, während ich zurück durch den Abstellraum schlich, aber ich war der Überzeugung, daß ich mein Quantum an Glück für eine Nacht mittlerweile endgültig aufgebraucht hatte und es gerade noch fehlte, daß just in diesem Moment ein oder zwei Luskentyrianer im Ziergarten lustwandelten, also blies ich die Kerze aus.
    Ich vergaß, mich rückwärts durch den Abstellraum zu tasten, und stieß so hart mit meinem Schienbein gegen eine Kante, daß ich tatsächlich Sterne sah – ich glaube, es lag daran, daß ich meine Augen so fest zusammenkniff; wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich laut aufgeschrien. Vornübergebeugt und mein Schienbein reibend, hinkte ich zum Fenster, während ich leise, aber geharnischte Flüche ausstieß. Erst als ich aus dem Fenster kletterte und das Mondlicht sah, das sich im Teich unter mir spiegelte, wurde mir bewußt, daß dies das Fenster sein mußte, aus dem mich mein Vater sechzehn Jahre zuvor in der Nacht des Brandes geworfen hatte.
    Durch diese plötzliche Erkenntnis wurde ich von einem kurzen Schwindelgefühl übermannt, während ich rittlings in dem geöffneten Schiebefenster saß, und einen Moment lang befürchtete ich, ich könnte das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen; das Fenster lag zweifelsohne hoch genug über dem Boden, daß ich mir beim Aufprall das Genick brechen konnte. Das Schwindelgefühl ging vorbei, aber meine zum Zerreißen angespannten Nerven hätten auf diesen Schreck gut und gern verzichten können. Ich fing wieder an zu zittern.
    Vielleicht lag es daran, daß sich der Abstieg schwieriger gestaltete als der Aufstieg, und ich hielt mich eine gute halbe Minute nur mit der Kraft meiner Fingerspitzen fest, während ich verzweifelt versuchte, mit der Stiefelkante Halt in einem Mauerspalt zu finden, aber schließlich erreichte ich wieder festen Boden und war schon wieder an der Gartenmauer, als mir ein Gedanke kam.
    Ich blickte die Straße hinunter zum Fluß.
    *
    »Is! Was ist los? Bist du…?« stammelte Sophi, als sie mich mit einem Ausdruck der Sorge auf ihrem liebenswerten Gesicht aus der Diele ansah. Sie trug einen Pyjama und darüber einen Morgenmantel.
    »Mir geht es gut«, erwiderte ich flüsternd. »Entschuldige, daß ich dich so spät noch störe, kann ich reinkommen?«
    »Natürlich.« Sie trat beiseite. »Dad ist im Bett«, erklärte sie.
    »Gut.« Ich küßte sie auf die Wange. Sie schloß die Tür und umarmte mich.
    »Dürfte ich wohl euer Telefon benutzen?«
    »Natürlich. Aber ich kann nicht schwören, daß ich aufbleiben werde, bist du fertig bist«, feixte sie schmunzelnd.
    Ich schüttelte den Kopf. »Es wird ein richtiges Gespräch werden mit Sprechen.«
    Sie tat entrüstet. »Darfst du das denn?« fragte sie, während sie das Telefon von seinem Tischchen nahm und es ins Wohnzimmer trug.
    »Eigentlich nicht«, gestand ich. »Aber der Zweck heiligt die Mittel.«
    »Mein Gott, dann muß es ja wirklich übel aussehen.« Sie zog die Telefonschnur unter der Tür durch und schloß diese. »Hier hast du mehr Ruhe«, sagte sie, während sie das Telefon auf der Anrichte abstellte. »Brauchst du einen Stuhl?«
    »Nein, danke.« Ich holte das Blatt Papier aus meiner Tasche, auf dem ich Morags Nummern notiert hatte.
    Ich erzählte Sophi, was ich getan hatte.
    »Is!« quiekte sie begeistert. »Du bist ja ein Fassadenkletterer!«
    »Es kommt noch schlimmer«, sagte ich und beobachtete, wie sich erst Entsetzen und dann Zorn auf ihren Zügen spiegelten, als ich ihr berichtete, was Allan Morag erzählt hatte.
    »Dieser schleimige Mistkerl«, wütete sie. »Willst du jetzt bei ihr anrufen? Bei Morag?«
    »Ja. Vielleicht legt sie gleich wieder auf, wenn sie meine Stimme hört; wenn sie es tut, würdest du sie

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