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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus und schmiegte sich enger an mich.
    Ich hielt ihn eine Weile in meinen Armen. Er wirkte so schmächtig.
    Nach einer Weile hob ich die Hand und legte meine Handfläche sanft auf Onkel Mos Haar, so als würde ich einen zerbrechlichen Becher halten. Ich schloß die Augen. Ich versenkte mich in den steten Rhythmus des dahinsausenden, ratternden Zugs, ließ seine pfeilschnelle Bewegung zu Ruhe und sein stählernes Grollen zu Stille werden, auf daß ich – in dieser Ruhe und Stille – einen Ort fand, um mich bereit zu machen und meine Kräfte zu sammeln und auf die Empfindungen zu warten, die das Erwachen meiner Gabe ankündigten.
    Schließlich kam es, kribbelte in meinem Kopf und in meiner Hand, und ich wurde zu einem Leiter, einem Filter, einem Herzen, einem gesamten System. Ich spürte den Schmerz und den Kummer und die zerbrochenen Träume meines Onkels. Spürte ihr einsames, trostloses, betäubendes Grauen, spürte die erstickende Fülle seiner inneren Leere und spürte, wie das alles in mich hineinfloß, in mir zirkulierte und dort gereinigt und neutralisiert und durch mich geläutert wurde und dann durch meine Hände wieder in ihn zurückfloß als eine Medizin, die aus Gift gemacht worden war, etwas Negatives, das nun in etwas Positives verwandelt worden war, das ihm Frieden gab und Hoffnung und Glaube.
    Ich schlug meine Augen wieder auf und bewegte meine Hand.
    Die Bäume vor dem Fenster wurden von Feldern und Weideland und dann von Häusern abgelöst.
    Ich schaute mir eine Weile die Häuser an. Onkel Mo atmete in regelmäßigen, entspannten Zügen, an mich geschmiegt wie ein Kind.
    Der Schaffner verkündete, daß wir in wenigen Minuten in Newcastle upon Tyne halten würden. Onkel Mo rührte sich nicht. Ich überlegte kurz, dann blickte ich auf meine Hand, die Hand, mit der ich Onkel Mos Gedanken berührt hatte.
    »Ach, Onkel Mo«, hauchte ich so leise, daß er es nicht hören konnte, »es tut mir leid.«
    Ich machte eine kurze Überschlagsrechnung im Kopf, dann schaute ich mich um, um mich zu vergewissern, daß niemand mich beobachtete, und schob Onkel Mo in meinen Armen etwas zur Seite. Dann – während ich Gott um Vergebung für meine Tat bat und mich gleichermaßen erbärmlich und siegessicher und zudem erregt fühlte – angelte ich Onkel Mos Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts.
    Er hatte noch achtzig Pfund bei sich. Ich nahm die Hälfte an mich, dann gab ich ihm von dem Geld, das ich bereits besaß – und von dem das meiste, wie ich gestehen muß, ebenfalls von Onkel Mo stammte, wenngleich er es auch nicht wußte –, Wechselgeld auf neunundzwanzig Pfund zurück. Ich steckte die Geldscheine ein, ließ die Brieftasche wieder in Onkel Mos Jackett verschwinden und setzte ihn anschließend so hin, daß sein Kopf halb gegen den Sitz und halb gegen das Fenster lehnte. Ich überlegte noch einmal, dann griff ich in seine andere Innentasche und nahm sein tragbares Telefon an mich. Er murmelte etwas, war aber ansonsten völlig weggetreten. Ich schrieb ihm eilig eine kurze Nachricht auf eine Serviette und schob sie unter den Plastikbecher auf dem Tisch vor ihm.
    Die Nachricht lautete: Lieber Onkel Mohammed. Es tut mir leid. Wenn Du diese Zeilen liest, werde ich schon in einem Zug nach London sitzen. Vielen Dank für Deine Freundlichkeit; ich werde alles erklären. Verzeih mir. In Liebe, Isis.
    P.S.: Das Telefon schicke ich dir mit der Post zurück.
    Als der Zug abbremste, stand ich auf, nahm meinen Reisehut vom Gepäcknetz über den Sitzen, griff mir mein Sitzbrett und ging den Gang hinunter, um meinen Seesack zu holen. Ich kam an einem Rentnerehepaar vorbei, deren Reservierungsschildchen an den Sitzen besagten, daß sie von Aberdeen nach York fuhren; ich sprach sie an, zeigte auf Onkel Mo und bat sie, ihn vor York zu wecken und dafür zu sorgen, daß er dort ausstieg. Sie erklärten sich bereit, und ich bedankte mich bei ihnen.
    Just als unser Zug in den Bahnhof von Newcastle einfuhr, fuhr aus der entgegengesetzte Richtung, von Süden her, ein zweiter Zug ein. Ich sprach mit einem Bahnangestellten, der mir erklärte, daß es sich um einen verspäteten Zug nach Edinburgh handelte. Ich rannte eilig über die Fußgängerbrücke und war auf dem Weg zurück nach Edinburgh, bevor Onkel Mos Zug seine Fahrt fortsetzte.

 
Kapitel
Zweiundzwanzig
     
     
    Als ich in Edinburgh eintraf, blieb mir noch eine Stunde bis zu meinem Rendezvous mit Morag. Es war ein angenehm

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