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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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erbarmungswürdiger Unerretteter in die Büsche gezerrt hatte.
    Seine Hand, mit der er mir den Mund zuhielt, hatte nach Pommes-Frites-Fett gerochen und sein Atem nach Zigaretten gestunken.
    Mein armes, träges Gehirn hatte einen Moment gebraucht, bis es – in den Worten von Großmutter Yolanda – erkannte: Dies ist keine Übung.
    Passenderweise war es natürlich ebenfalls Großmutter Yolanda gewesen, deren Selbstverteidigungskurse mich mit den nötigen Kenntnissen ausgerüstet hatten, um (abermals in Yolandas Worten) dem Dreckskerl zu zeigen, was eine Harke ist.
    Ich hatte gewartet, bis er aufhörte, mich rücklings nach hinten zu zerren, und meine Füße wieder Halt gefunden hatten (ich glaube, er versuchte, mich zu Boden zu werfen, aber ich klammerte mich mit beiden Händen an seinem Arm fest), dann habe ich ihm einen ordentlichen Tritt gegen sein nächstgelegenes Schienbein versetzt – wobei ich sehr dankbar für meine schweren, für die Landarbeit gemachten Stiefel war – und ihm mit aller Kraft und meinem ganzen Gewicht auf den Spann getreten; ich war überrascht, wie laut es knackte.
    Er ließ mich los und schrie; ich mußte nicht einmal die fünfzehn Zentimeter lange Hutnadel einsetzen, die Yolanda mir geschenkt hatte und die ich im Revers meiner Reisejacke trug, so daß nur ihr kleiner, mit einer Gagat-Perle verzierter Kopf herausragte.
    Der Mann lag zusammengekrümmt auf der braunen Erde; ein mageres Kerlchen mit ungepflegt langen, schwarzen Haaren, einer glänzenden schwarzen Synthetikjacke mit zwei weißen Streifen, verwaschenen Jeans und matschigen schwarzen Turnschuhen. Er umklammerte seinen Fuß und schluchzte Obszönitäten.
    Zu meiner Schande blieb ich nicht dort und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden; ich erklärte ihm nicht, daß Gott ihn trotz all seiner Schwächen und seiner Verderbtheit wertschätzte und daß er – wenn er nur danach suchte – eine tiefe, erfüllende und unendliche Liebe in der Verehrung Gottes finden würde, die zweifelsohne weit befriedigender wäre als irgendein kurzer körperlicher Augenblick der geilen Lust, besonders wenn dieser durch Zwang und Unterwerfung eines Mitmenschen erreicht wurde und gänzlich bar der Erhabenheit der Liebe war. Statt dessen überlegte ich in jenem Moment, ihm einige Male mit meinen schweren Arbeitsstiefeln kräftig gegen den Kopf zu treten, während er so hilflos dort am Boden lag. Doch schließlich suchte ich nur nach meinem Hut (wobei ich immer ein Auge wachsam auf den Burschen gerichtet hielt, der nun wimmernd tiefer ins Gebüsch kroch), staubte ihn ab, nachdem ich ihn gefunden hatte, und ging hinunter zum sonnenbeschienenen Fluß, um mir den Gestank von Pommes-Frites-Fett und abgestandenem Zigarettenrauch vom Gesicht zu waschen.
    »Ich werde es der Polizei melden!« rief ich laut vom Weg in die im Wind rauschenden Bäume.
    Ich tat es allerdings nicht und wurde deshalb bei mehreren Gelegenheiten von nagenden Schuldgefühlen übermannt.
    Nun, vorbei ist vorbei, wie man so schön sagt, und ich kann nur hoffen, daß der arme Mann niemanden mehr überfallen und statt dessen ein unverderbtes Ventil für seine Liebe in der Verehrung unseres Schöpfers gefunden hat.
    Ich trocknete die Hände an der Jacke ab und setzte meinen Weg fort.
    *
    Als ich nach High Easter Offerance heimkehrte, fand ich eine dräuende Katastrophe und einen eilig einberufenen Kriegsrat vor.

 
Kapitel
Drei
     
     
    Am nächsten Morgen, als die Dämmerung noch eine graue Andeutung in den reglosen Nebelschleiern am Himmel war, stieg ich planschend ein kleines Stück stromabwärts von der Eisenbrücke in den Fluß und watete durch den schmatzenden, eiskalten Schlamm unter dem braunen Wasser. Auf der steilen Uferböschung über mir, unter dem dunklen Baldachin der ausladenden Bäume, standen in einer schweigenden, dicht zusammengedrängten Menge fast alle Erwachsenen unserer Gemeinde.
    Ich zog mich hoch und in mein Reifenschlauch-Floß hinein, während Schwester Angela das schwarze Gefährt festhielt. Bruder Robert reichte ihr vom Ufer den alten, braunen Seesack, den Schwester Angela wiederum an mich weitergab; ich stellte ihn auf meinem Schoß ab. Meine Stiefel hingen an verknoteten Schnürsenkeln um meinen Hals, mein Hut baumelte mir an seinem Band im Rücken.
    Bruder Robert stieg nun ebenfalls ins Wasser; er hielt mein kleines Boot fest und reichte den Klappspaten an Schwester Angela, die ihn wiederum in meine Hände übergab; ich klappte ihn auseinander und ließ das

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