Die Auserwählte
unter schweren, dunklen Lidern; sie ist die Mutter von Indra und Hymen. Sie kleidet sich schlichter als der Rest von uns, in langen, einfachen Kleidern, und doch gelingt es ihr, Eleganz und Würde auszustrahlen. »Sie liegt uns allen sehr am Herzen«, fuhr sie fort.
»Es ist vollkommen klar, daß uns Schwester Morags Seele ebenso am Herzen liegt wie die jedes anderen Mitglieds unseres Ordens«, fiel Salvador ihr ins Wort – Astar neigte ehrfürchtig den Kopf, die Augen halb geschlossen –, »und deshalb der Schmerz ob ihrer Abkehr vom wahren Glauben sehr groß ist und wir in jedem Fall alles in unserer Macht Stehende unternehmen würden, um sie eilends wieder in den Schoß der Gemeinde zurückzuführen, aber der Punkt ist, daß sich aus Morags Fahnenflucht eine noch weit unmittelbarere und dringlichere Folge ergibt, nämlich die Frage, was wir nun wegen des Fests unternehmen sollen.«
Ich hängte meine Jacke über eine Stuhllehne. Salvador tigerte vor den beiden kleinen Fenstern des Büros auf und ab; Schwester Erin stand an der Tür neben dem kleinen Schreibtisch, auf dem die Remington-Schreibmaschine ihren Platz hatte; Allan stand mit verschränkten Armen, gesenktem Kopf und bleichem Gesicht vor dem Kamin neben seinem eigenen Schreibtisch, der einen großen Teil der hinteren Hälfte des Raums einnahm.
»Geliebter Großvater, wenn ich kurz…?« meldete sich Allan zu Wort. Salvador bedeutete ihm mit einer Geste fortzufahren. »Isis«, sagte Allan und spreizte die Hände, »der Punkt ist, wir haben aus Morags Teilnahme als Ehrengast des Fests eine ziemlich große Sache gemacht; wir haben den Gläubigen auf der ganzen Welt geschrieben und sie eingeladen, dem Fest beizuwohnen, immer mit Hinweis auf Morags Ruhm und ihre unerschütterliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft.«
Ich war schockiert. »Aber von all dem habe ich nichts gewußt!« Gewöhnlich scheuten wir alles, was den Beigeschmack von aktiver Werbung hatte; persönliche Gespräche waren weit mehr unser Stil (obgleich wir durchaus schon immer der Ansicht waren, daß es unter gewissen Umständen sehr wohl angebracht sein kann, an Straßenecken zu stehen und sich lautstark Gehör zu verschaffen).
»Nun«, erwiderte Allan, sein Gesicht jetzt nicht nur bleich, sondern auch schmerzlich verzerrt. »Das war einfach so eine Idee, die uns gekommen ist.« Er schaute Großvater an, der den Blick abwandte und den Köpf schüttelte.
»Es bestand kein Grund dazu, dich schon zu diesem Zeitpunkt davon in Kenntnis zu setzen, Geliebte Isis«, sagte Erin, wenngleich ich nicht sicher war, ob sie selbst davon überzeugt war.
»Der Punkt ist, daß Morag nicht zu dem verdammten Fest kommt«, donnerte Salvador, bevor ich noch etwas erwidern konnte. Er drehte sich um und marschierte mit ausholenden Schritten an mir vorbei. Er trug eines seiner langen, cremefarbenen, wollenen Gewänder – Wolle von unseren eigenen Schafen natürlich –, ganz wie jeden Tag, aber an diesem Tag sah er irgendwie anders aus; erregt in einer Weise, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte.
Morag – die wunderschöne, anmutige, begabte Morag – war immer ein ganz besonderer Liebling meines Großvaters gewesen; ich vermutete, in einem fairen Kampf, daß heißt ohne den Vorteil des erhabenen Status als Auserwählte Gottes, der mir durch das Datum meiner Geburt zugefallen war, hätte sich Morag und nicht ich als der Augenstern unseres Gründers bewiesen. Ich empfand diesbezüglich weder Verbitterung noch Eifersucht; sie war meine beste Freundin gewesen, und selbst nach all diesen Jahren war sie vermutlich noch immer meine zweitbeste Freundin nach Sophi Woodbean, und darüber hinaus hatte ich meine Cousine ebenso ins Herz geschlossen wie mein Großvater; es ist schwer, Morag nicht zu mögen (es gibt einige Leute von diesem Schlag in unserer weitverzweigten Familie).
»Wann haben wir das alles erfahren?« fragte ich.
»Der Brief ist heute morgen eingetroffen«, erklärte Allan. Er deutete mit einem Nicken auf ein Blatt Papier, das auf der abgewetzten grünen Lederunterlage seines Schreibtisches lag.
Ich nahm den Brief hoch; Morag hatte über die letzten sechs Jahre nach Hause geschrieben, seit sie nach London gezogen war. Bislang waren ihre Briefe stets ein Quell des Stolzes gewesen, die Chronik ihres wachsenden Erfolges, und bei den beiden Gelegenheiten, als sie uns seit ihrem Umzug besucht hatte, hatte sie wie ein exotisches, beinahe fremdartiges Fabelwesen angemutet; graziös und gepflegt und
Weitere Kostenlose Bücher