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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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schlank und schlichtweg überströmend von Selbstvertrauen.
    Ich las den Brief; wie üblich war er getippt, ohne Korrekturen (Allan hatte mir erzählt, daß er vermute, Morag benutzte eine Maschine, die man Textverarbeitungsgerät nennt, und ich hatte in meiner Unkenntnis lange geglaubt, diese Maschine könne wohl selbsttätig aus eingegebenen Worten einen Brief fabrizieren). Morags Unterschrift war so groß und ausladend wie immer. Der Text selbst war knapp gehalten, aber ihre Briefe waren nie sonderlich lang gewesen. Ich bemerkte, daß sie noch immer Schwierigkeiten mit »daß« und »das« hatte. Die Adresse im Briefkopf, die ihrer Wohnung in Finchley, war durchgestrichen worden.
    Ich sprach die anderen darauf an. »Ist sie umgezogen?« fragte ich.
    »Es scheint so«, erwiderte Allan. »Der letzte Brief, den Schwester Erin an Morag schickte, kam mit dem Vermerk ›Adressat verzogen‹ zurück. Schwester Morags letzter Brief vor diesem war auf Briefpapier des Royal Opera House in London geschrieben. Vielleicht hätten wir da schon ahnen sollen, daß etwas im argen lag, aber wir nahmen an, daß sie beruflich wohl sehr beschäftigt sei und schlichtweg vergessen hatte, uns auf dem laufenden zu halten.«
    »Nun, was sollen wir jetzt tun?« fragte ich.
    »Ich habe für heute nachmittag einen außerordentlichen Gottesdienst anberaumt«, sagte Salvador und blieb stehen, um aus dem Fenster zu sehen. »Dann werden wir uns über die Angelegenheit unterhalten.« Er schwieg einen Moment, dann drehte er sich um und sah mir in die Augen. »Aber ich wäre dankbar, wenn…« Er verstummte, dann kam er herüber, faßte mich bei den Schultern und sah mir durchdringend in die Augen. Seine sind dunkelbraun, die Farbe von Roßkastanien. Er ist drei Zentimeter kleiner als ich, aber er verfügt über eine solche Präsenz, daß er mir das Gefühl gab, über mir aufzuragen. Sein Griff war fest, und sein buschiger Bart und sein lockiges weißes Haar leuchteten im Sonnenlicht wie ein Heiligenschein. »Isis, mein Kind«, sagte er leise. »Wir werden dich vielleicht bitten müssen, dich unter die Unbedarften zu begeben.«
    »Oh«, entschlüpfte es mir.
    »Du warst Morags Freundin«, fuhr er fort. »Du verstehst sie. Und du bist die Auserwählte; wenn irgend jemand sie überreden kann, ihre Meinung zu ändern, dann du.« Er sah mir noch immer in die Augen.
    »Was ist mit den Änderungen in der Orthographie, Großvater?« fragte ich.
    »Die können warten, wenn es sein muß«, erwiderte er stirnrunzelnd.
    »Isis«, sagte Allan und trat dichter an uns heran. »Du bist nicht verpflichtet, das zu tun, und« – er sah unsicher zu Großvater –, »und es gibt auch gute Gründe, weshalb du es nicht tun solltest. Wenn du irgendwelche Zweifel in bezug auf diese Mission hegst, dann mußt du hierbleiben, bei uns.«
    Schwester Erin räusperte sich. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Bedauerns. »Vielleicht ist es das beste, davon auszugehen, daß Morag nicht zum Fest nach Hause kommen wird; möglicherweise könnte ja die Geliebte Isis an ihrer Stelle als Ehrengast des Fests fungieren.«
    Salvador runzelte die Stirn. Allan schaute nachdenklich drein. Astar blinzelte nur. Ich schluckte und versuchte, nicht allzu schockiert dreinzuschauen.
    »Vielleicht fällt uns bei der Versammlung noch etwas anderes ein«, meinte Astar.
    »Wir können nur beten«, sagte Allan. Großvater klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich wieder zu mir um; alle sahen mich an.
    Mir wurde bewußt, daß sie von mir erwarteten, daß ich etwas sagen würde. Ich zuckte die Achseln. »Selbstverständlich«, sagte ich. »Wenn ich gehen muß, werde ich gehen.«
    *
    Der Gottesdienst wurde in unserem Versammlungssaal, dem ehemaligen Ballsaal des Herrenhauses, abgehalten. Alle Erwachsenen waren dort. Die älteren Kinder paßten im Klassenzimmer, uns gegenüber auf der anderen Seite der Eingangshalle, auf die jüngeren auf.
    Der Versammlungssaal ist ein schmuckloser, schlichter Raum mit hohen Fenstern, weißen Wänden und einem kniehohen Podium an der Stirnwand. In einer Ecke steht eine kleine Orgel; sie ist etwa zwei Meter hoch, hat zwei Manuale und wird mit Blasebälgen betrieben. Bei einem regulären Feiergottesdienst – bei Vollmond oder bei einer Taufe oder Eheschließung – würde ich jetzt dort sitzen und spielen, aber bei diesem speziellen Anlaß saß ich bei den anderen Gemeindemitgliedern auf einer Bank.
    Vorn auf dem Podium befindet sich ein von zwei Duftkerzen geziertes

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