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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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Stadt, sah mir die Schaufenster der Geschäfte und die Schlagzeilen der Zeitungen an, die an den Kiosken aushingen, wie immer fasziniert und zugleich abgestoßen von den bunten Waren und den marktschreierischen schwarzen Lettern. In solchen Momenten bin ich mir durchaus bewußt, daß ich einem kleinen Kind gleiche, das sich die Nase an der Schaufensterscheibe eines Bonbonladens plattdrückt, und ich hoffe, daß mir diese Erkenntnis Demut verleiht. Gleichzeitig muß ich ein gewisses Verlangen eingestehen, eine gewisse Gier nach dem einen oder anderen nichtigen Tand, so daß ich es als Erleichterung empfinde, keinen einzigen Penny in meinen Taschen zu haben, wodurch diese Güter (eine durch und durch irreleitende Bezeichnung, wie mein Großvater oft zu Recht betont) gänzlich unerreichbar für mich bleiben. Dann löste ich mich aus meiner Versenkung und ging entschlossenen Schritts zu der langgestreckten, verwitterten Sandstein-Kathedrale.
    Mr. Warriston erwartete mich im Chorgestühl.
    *
    Ich habe das Orgelspielen im Versammlungssaal des Herrenhauses gelernt, als ich noch zu klein war, um die höchsten Register erreichen oder die Pedale treten zu können, ohne von der Bank zu fallen. Ich konnte keine Noten lesen, aber meine Cousine Morag konnte es, und sie brachte mir die nötigsten Grundkenntnisse bei. Später spielte sie Cello, während ich die Orgel spielte, wobei sie vom Blatt ablas, während ich improvisierte. Ich glaube, wir haben uns gut zusammen angehört, auch wenn die uralte Orgel etwas asthmatisch war und dringend einiger professioneller und kostspieliger Reparaturen und Ausbesserungen bedurfte, die selbst Bruder Indra nicht bewerkstelligen konnte (ich lernte, gewisse Noten und Register zu umgehen).
    Ich glaube, es war Gott, der mich vor fünf Jahren, kurz nachdem die Flentrop eingeweiht worden war, auf einem meiner üblichen langen Spaziergänge hierherführte und mich in Gegenwart eines Menschen, der meine Bewunderung erkennen konnte, so sehnsüchtig jene pfeifenglänzenden, meisterhaft geschnitzten Höhen und die Manuale und Registerzüge anstarren ließ, daß eben dieser Mensch, Mr. Warriston – einer der Küster der Kathedrale und selbst ein Orgelliebhaber – sich gehalten sah, mich zu fragen, ob ich dieses Instrument spielte.
    Ich bejahte, und wir unterhielten uns eine Weile über die Möglichkeiten und Grenzen der Orgel, auf der ich gelernt hatte (ich erwähnte weder das Herrenhaus noch unsere Gemeinschaft mit Namen, obgleich Mr. W auf den ersten Blick meine Herkunft erahnte; zu meiner Erleichterung hat er sich nie unangemessen interessiert oder abgestoßen von uns oder den Lügen, die über uns verbreitet wurden, gezeigt). Mr. Warriston ist ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem hageren, grauen, aber freundlichen Gesicht und einer sanften Stimme; er ist fünfzig, wirkt jedoch älter. Einige Jahre, bevor ich ihn kennenlernte, war er aufgrund von Invalidität als Frührentner aus seiner Anstellung beim Wasserwerk ausgeschieden. Er hatte gerade die Orgel für ein Konzert an jenem Abend überprüfen wollen; er erlaubte mir, mich auf die schmale Bank vor den drei übereinander angeordneten Manualen zu setzen, erklärte mir die Pedale und die Register mit ihren seltsamen holländischen Namen – Bazuin und Subbas, Quintadeen und Octaaf, Scherp und Prestant, Salicionaal und Sexquilter – und dann – Gott im Himmel, welche Freude – ließ er mich das wunderbare, wohlklingend lebendige Instrument spielen, so daß ich, zuerst noch zögernd und eingeschüchtert von den Möglichkeiten dieser unvergleichlichen Orgel, das gewaltige Kirchenschiff um uns herum mit wogenden Klängen erfüllte, die sich immer mutiger und jubilierender inmitten der Säulen, des Gebälks und der prachtvollen Glasfenster jenes erhabene Gotteshauses aufschwangen.
    *
    »Und was war das, das du da heute gespielt hast, Is?« fragte Mr. Warriston und stellte eine Tasse Tee auf den kleinen Tisch neben meinem Stuhl.
    »Ich bin nicht sicher«, gestand ich, während ich nach der Tasse griff. »Etwas, das meine Cousine Morag immer spielte.« Ich trank einen Schluck Tee.
    Wir saßen im Wohnzimmer der Warristons, in ihrem Bungalow auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber der Kathedrale. Das Fenster bot Ausblick über den Garten, wo Mrs. Warriston gerade Wäsche zum Trocknen aufhängte; über das frühlingshafte Grün der Bäume um die verborgene Eisenbahnstrecke und den Fluß hinweg konnte man den Turm der Kathedrale sehen. Ich

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