Die Auserwählte
voller Unbehagen in dem Wissen, daß ich die einzigen beiden anderen Menschen in der Stadt verließ, die zu den Erretteten (oder auch den Erleuchteten, den Verständigen, den Bevorzugten, den Scharfsinnigen, den Auserwählten, den Veredelten, den Begnadeten, den Klaren, den Beauftragten, den Aktiven, den Erhellten und den Erweckten) zählten.
Der Tag war warm, und ich ließ meinen Hut im Rücken über meiner Jacke baumeln, die Gertie über Nacht so gut es ging gereinigt hatte. Die großen Durchgangsstraßen der Stadt waren verstopft mit Autos, die Bürgersteige wimmelten von Menschen. Die Luft stank nach verbranntem Benzin; grellbunte Werbeplakate und Schaufensterauslagen wetteiferten zu allen Seiten um Beachtung. Einige Leute beäugten mich argwöhnisch – ich fand nicht, daß meine monochromen Kleider sich sehr von jenen unterschieden, die viele der Jugendlichen (beiderlei Geschlechts) trugen, welche mir begegneten, und ich bemerkte auch einige Leute mit Hut, also war es vielleicht mein Wanderstab, der mich von der Masse unterschied. Ich fühlte mich unbehaglich und verkrampft inmitten all dieser Störgeräusche und all dieser Menschen, und nach einer Weile zog ich mich in die ruhigeren Gassen zurück, weg von so viel erdrückender Menschheit.
Einige Kinder auf einem Schulhof riefen durch den Gitterzaun zu mir herüber, bezichtigten mich, ein Blödi zu sein, wie sie es nannten, und forderten mich auf, meinen Wanderstab herzuzeigen – »Verwandelt der sich in ein Power-Schwert?«
Ich hatte sie eigentlich ignorieren wollen, doch dann wandte ich mich statt dessen um und näherte mich ihnen; zuerst wichen sie zurück, dann – vielleicht ermutigt von ihrer Anzahl und dem Gitterzaun zwischen uns – kamen sie wieder dichter heran.
»Was ist ein Power-Schwert?« fragte ich.
»Na, du weißt schon, wie bei den Transformers, Samstag morgens«, erwiderte einer von ihnen.
Ich überlegte einen Moment. »Du meinst im Fernsehen?«
»Aye! Klar! Ja! In der Glotze!« riefen sie im Chor.
Ich schüttelte den Kopf. »Bei uns zu Hause haben wir kein Fernsehgerät.«
»Was? Neee! Nich’ im Ernst! Du nimmst uns auf den Arm! Wohnst du in ’ner Klapsmühle, Miss?«
Diese Bemerkung sorgte für Erheiterung unter den älteren Kindern, von denen eins – das, welches zuerst gesprochen hatte – fragte: »Was hast du denn da auf der Stirn?«
»Es ist ein Zeichen des Respekts«, erklärte ich ihm lächelnd. »Ein Zeichen der Liebe und des Glaubens… wie heißt du?«
»Mark«, erwiderte er, begleitet von einigem Gekicher. Er blickte mich trotzig an. »Und du?«
»Nun, ich habe einen etwas komischen Namen«, erklärte ich ihnen. »Ich bin Die Gesegnete Hochwürdige Gaia-Marie Isis Saraswati Minerva Mirza Whit von Luskentyre, Geliebte Auserwählte Gottes III.«
Noch mehr Gelächter. Dann schellte die Schulglocke, und die Kinder wurden von einem Lehrer fortgerufen, der mich mißtrauisch anstarrte. Ich winkte ihnen nach und sprach still einen Segen über sie, dann wandte ich mich ab, blickte auf den Wanderstab in meiner Hand und dachte bei mir, wie klein doch die Zeichen sind, mit denen wir der Welt – absichtlich oder unabsichtlich – kundtun, daß wir nicht zu den Seichten gehören. Es ging mir ebenfalls durch den Sinn, daß derartige Zeichen oftmals die Sinnbilder einer unvertrauten Zweckmäßigkeit sind und wie fehlgeleitet doch die Überzeugung ist, die große Welt wäre so ungeheuer aufgeschlossen und tolerant.
Meine eigene Schulzeit – die, gemessen an der Spanne eines ganzen Lebens, noch nicht allzulang zurücklag, obschon sie mir doch schon recht entfernt schien – hatte ich an der Gerhardt Academy verbracht. Wir schicken unsere älteren Kinder nun schon seit dreißig Jahren als Tagesschüler auf diese Schule – vor dem Stadttoren von Killearn, an der Westflanke der südlichen Hügelkette, gelegen –, seit es damals Ärger mit den örtlichen Behörden gegeben hatte; die zuständigen Ämter waren und sind zufrieden mit dem Niveau unseres Grundschulunterrichts, verlangten jedoch, daß wir unsere älteren Kinder eine geregeltere Ausbildung durchlaufen ließen. Die Gerhardt Academy ist eine Schule für die Kinder von Eltern, die eine Erziehung wünschen, die zwar offiziell anerkannt, doch weniger strikt strukturiert ist als ansonsten an staatlichen oder privaten Lehranstalten üblich. Es war noch immer ein Traum meines Großvaters, irgendwann in der Zukunft allen Kindern der Gemeinschaft über die Grundschulstufe hinaus
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