Die Auserwählte
Kindesbeinen an von Zhlonjiz gehört, hatte es aber zum allerersten und bislang einzigen Mal bei der offiziellen Zeremonie zur Feier meiner Mündigkeit vor drei Jahren gesehen oder gerochen. Ich wußte, daß mein Großvater nach all der Zeit nur noch einen winzigen Rest dieses gehüteten, legendären Balsams übrig hatte. Daß er mir die unendliche Ehre zukommen ließ, mir dieses bedeutende Überbleibsel unseres Allerheiligsten anzuvertrauen, war zugleich ein Beweise der tiefen Liebe, die er für mich empfand, als auch des Vertrauens, das er in mich setzte, sowie eine ernüchternde Erinnerung – hätte ich ihrer denn bedurft – an die Bedeutung meiner Mission.
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen sprangen. Ich verschloß die Phiole abermals vorsichtig, preßte ihre kleine Bakelitkappe gegen meine Stirn und flüsterte einen Segensspruch, dann küßte ich das winzige Glasgefäß und verstaute es, sorgfältig eingewickelt in meine Kleider zum Wechseln, wieder am Boden meines Seesacks.
*
Als Stadt besitzt Edinburgh – nach unseren Maßstäben – den Vorzug, daß es in seinem Zentrum unüberschaubar, verwinkelt und voll von verschiedenen Ebenen und gewundenen, steilen Gassen ist (obgleich, wie man hört, die alten Städte des Heiligen Landes Edinburgh in dieser Hinsicht noch übertreffen und es in Tokio, in Japan, wohl nachweislich sehr schwer ist, sich zurechtzufinden). Natürlich bleibt Edinburgh dennoch eine Stadt und ist deshalb zu meiden, es sei denn, man hat einen triftigen Grund, sich dort aufzuhalten – in Gertie Possils Fall war es eine nostalgische Schwäche für die Erinnerungen an ihre Ehe, die mit dem Haus verbunden waren und sie veranlaßt hatten, dort zu bleiben –, doch soweit es Städte angeht, ist Edinburgh weder besonders geordnet angelegt (einmal abgesehen von der New Town) noch zu groß, um über die Stadtgrenzen hinausschauen zu können; zwei Kriterien, die mir immer besonders wichtig erschienen. Wir haben es immer als ein schlechtes Zeichen erachtet, wenn man nur einfach die X-Achse von der Y-Achse unterscheiden können muß, um sich in einer Stadt zurechtzufinden, und wir sind meiner Meinung nach zu Recht entsetzt ob der Aussicht, daß einem, in der Hoffnung, etwas Natürliches zu sehen, nur noch der Blick hinauf zu den Wolken bleibt (die in aller Wahrscheinlichkeit verunreinigt sind von Flugzeugen und ihren Kondensstreifen oder des Nachts von den reflektierten Lichtern der Stadt selbst).
Ich hatte noch immer zu entscheiden, wie ich meine Reise nach London mit der gebotenen Heiligkeit fortsetzen sollte, doch mein unerwartet schnelles Fortkommen tags zuvor – ich hatte eigentlich geschätzt, daß die Flußfahrt zwei Tage in Anspruch nehmen würde und ich irgendwo am Ufer Unterschlupf für die Nacht suchen müßte –, sowie die vergleichsweise annehmliche Atmosphäre von Edinburgh bewirkten, daß ich mich nicht zu unnötiger Eile getrieben sah, als ich am nächsten Morgen zu peinlich später Stunde aufstand; ich entschied, daß ich mir einen Tag zum Ausruhen und Nachdenken gönnen könnte.
Nach einem Frühstück, bei dem ich ebenso ehrfürchtig hofiert wurde wie beim Abendessen – es waren Rosenblätter in meinem Tee, und ich mußte Gertie Possil gestatten, mir die Füße zu waschen –, erklärte ich Gertie und ihrem Sohn, daß ich mich etwas in der Stadt umsehen müßte und zurückkehren würde, sobald ich meine Kundschaftermission erfolgreich abgeschlossen hätte. Ich lehnte Gerties Angebot ab, Lucius als Führer zu nehmen – er schien, verborgen hinter einem nervösen Lächeln ebenfalls erleichtert –, und versicherte ihr, daß ich auf mich selbst achtgeben könnte. Gertie schien jedoch nicht beruhigt, und so erwähnte ich, daß ich mich zusätzlich sicher fühlte, daß ich das Gefäß mit Zhlonjiz bei mir hätte; Schwester Gertrude war angemessen beeindruckt, daß der legendäre Balsam meiner Obhut anvertraut worden war, doch vor allem schien sie hinlänglich zufriedengestellt, daß meine Sicherheit dadurch garantiert war.
Und so ging ich aus – meine Taschen gefüllt mit den kostbaren Gegenständen, die ich aus der Gemeinde mitgebracht hatte, sowie einigen Sandwiches mit eingelegten Mangos, die Gertie bereitet hatte –, unter die Unerretteten (auch bekannt als die Elenden, die Wahnsinnigen, die Durchschnittlichen, die Begriffsstutzigen, die Verschmähten, die Fehlerhaften, die Spreu, die Gestörten, die Grobklotzigen, die Passiven, die Unbedarften und die Schlafenden),
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