Die Auserwählte
ich machte mir langsam Sorgen, daß vielleicht schon jemand den großen Pappkarton bemerkt hatte, den ich ein Stück weiter entlang der Gleise, nahe der nächsten Brücke in Richtung Osten, dort wo die Eisenbahn unter der Braid Avenue hindurchfährt, über die Signalanlage geworfen hatte.
Der Karton hatte offenkundig einstmals eine Waschmaschine enthalten; ich hatte ihn in einem Abfallcontainer ein paar Straßen weiter entdeckt, ihn zum Bahndamm getragen, mich vergewissert, daß niemand in der Nähe war, den Karton über die baufällige Umzäunung geworfen und war hinterher geklettert, dann hatte ich mich durch die Büsche und das Gestrüpp gekämpft und den Karton über die Signalanlage gestülpt. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand den Karton bemerkte und es den zuständigen Stellen melden würde. Glücklicherweise waren bislang noch keine Züge in der Gegenrichtung durchgekommen, deren Lokomotivführer den Karton hätten entdecken können, aber langsam begann ich doch, mir Sorgen zu machen.
Ich hatte mich nach einem weiteren feierlichen Mahl und einer weiteren ehrfürchtigen Fußwaschung durch Gertie von den Possils verabschiedet. Sie gab mir Sandwiches und Wasser als Wegzehrung mit; Lucius stammelte nuschelnd, bis seine Mutter ihm einen herzhaften Schlag in den Nacken versetzte, woraufhin er erklärte, daß die altmodische Krawatte, die er mir hinhielt – und die ich gerade hatte segnen wollen –, ein Geschenk sei.
Ich nahm Gerties Wegzehrung und Lucius’ Krawatte an und bedankte mich bei den beiden. Den Stadtplan von London, den ich mir geliehen hatte, hatte ich bereits eingepackt. Ich schenkte ihnen die Zeichnungen von den Gebäuden an der Straßenkreuzung und sagte ihnen, daß sie meinen Wanderstab behalten könnten. Lucius stammelte überschwenglich seine Dankbarkeit; Gertie preßte die Hand gegen die Brust und sah aus, als würde sie gleich einen Herzanfall bekommen. Dann warf sie sich mir zu Füßen, und so verließ ich das Haus, rückwärts, just wie ich es betreten hatte, während Schwester Gertie meine Stiefel tätschelte.
Ich empfand eine gewisse Erleichterung, als ich durch den Nieselregen zu den Eisenbahngleisen und dem stillgelegten Bahnhof ging.
Ich hörte einen Zug durch den Durchstich im Westen auf mich zurattern. Ich griff meinen Seesack und streckte die Beine, die vom langen Hocken in derselben Position steif geworden waren.
Kleine weiße Lichter tauchten im stockdunklen Durchstich auf, und das Donnern der Diesellok schwoll an; der schwarze Koloß der Lokomotive ratterte vorbei; ich konnte den Lokführer erkennen, der im gelb erleuchteten Führerstand saß und stur geradeaus starrte. Die Lok zog leere Waggons ähnlich denen, die ich am vorigen Abend zu ungefähr derselben Zeit und seither, so mich meine Augen nicht getäuscht hatten, wohl noch zweimal gesehen hatte, bei jeder Gelegenheit beladen mit neuen Autos. Die Lokomotive donnerte unter der Straßenkreuzung hindurch, und ihre stinkenden Auspuffgase hüllte mich wie eine wabernde Wolke ein. Die Waggons sausten ratternd und klappernd an mir vorbei, und einen Moment lang war ich überzeugt, mein Plan wäre gescheitert, doch dann begann der Zug in einer Kakophonie aus Kreischen und metallischem Quietschen abzubremsen.
Ich wäre beinahe sofort aufgesprungen, aber ich zwang mich zu warten, bis der Zug endgültig zum Halten kam, bevor ich ganz ruhig aus den Büschen trat und zum drittletzten der stehenden Waggons ging. Dann stieg ich von dem unkrautüberwucherten Bahnsteig in den Waggon ein, just wie ein zahlender Fahrgast in einen gewöhnlichen Reisezug.
Ich spähte an den offenen Güterwaggons entlang nach hinten, dann setzte ich mich in eben diese Richtung in Bewegung, sprang von Waggon zu Waggon, bis ich das Ende des Zuges erreichte. Ganz hinten auf dem letzten Waggon stand ein einzelnes Auto. Zu diesem ging ich. Die Karosserie wirkte glanzlos und matt und fühlte sich an, als wäre sie mit einer Wachsschicht überzogen; auf die Motorhaube war ein großes, blasses, kreidig aussehendes »X« gemalt, und ein Stoß Papiere war mit Haftstreifen von innen an die Windschutzscheibe geklebt. Ich zog am Griff der Beifahrertür und stellte fest, daß sie unverschlossen war.
Ich blickte zum nieseligen Himmel auf. »Gelobt sei der Herr«, sagte ich lächelnd und hätte einen lauten Freudenschrei ausgestoßen, hätte ich nicht Angst gehabt, mich dadurch zu verraten. »Ja, gelobt sei der Herr«, wiederholte ich leise
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