Die Auserwählten - Im Labyrinth (German Edition)
nonstop. Man brauchte kein Mathegenie zu sein, um auszurechnen, dass er bei der Rückkehr zur Lichtung fast einen halben Marathon zurückgelegt haben würde, und das in einem irren Tempo.
Nie zuvor war ihm die schier unglaubliche Größe des Labyrinths so bewusst geworden. Kilometer um Kilometer um Kilometer. Mit den Wänden, die sich jede Nacht verschoben. Endlich begriff er, warum es so schwer war, das Labyrinth zu knacken. Bis jetzt hatte er seine Zweifel gehabt und sich gefragt, warum die Läufer so unfähig waren.
Immer weiter, links und rechts im Dauerlauf, geradeaus, weiter, weiter. Als er die Schwelle zur Lichtung passierte, blieben nur noch wenige Minuten, bis sich die Tore an diesem Abend schlossen. Erschöpft verkroch er sich sofort ganz hinten im Schädelfeld, ging immer tiefer in den Wald hinein, bis er zu der Stelle kam, an der sich die Bäume in die Südwestecke drängten. Mehr als alles andere wollte er allein sein.
In der Ferne hörte man ein paar Lichter reden, das schwache Mähen der Schafe und Grunzen der Schweine, und er fühlte sich in Sicherheit. Er suchte die Stelle, an der die beiden riesigen Wände aufeinandertrafen, und ließ sich in die Ecke fallen. Niemand kam, niemand nervte ihn. Wenig später schloss sich die Südwand rumpelnd für die Nacht. Er beugte sich vor, bis es vorbei war, dann lehnte er sich wieder zurück in den weichen, dicken Efeu und schlief auf der Stelle ein.
Am nächsten Morgen rüttelte ihn jemand sanft wach.
»Wach auf, Thomas.« Es war Chuck – der Kleine schien ihn überall aufspüren zu können.
Stöhnend reckte Thomas die Arme und streckte den Rücken. Irgendjemand hatte im Laufe der Nacht Decken über ihn gebreitet – es gab jemanden, der Herbergsmutter für die Lichter spielte.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte er.
»Schon fast zu spät fürs Frühstück.« Chuck zog an seinem Arm. »Komm schon, steh auf. Du musst dich jetzt zusammenreißen, sonst machst du alles nur noch schlimmer.«
Die Ereignisse des Vortages waren mit voller Wucht sofort wieder da und in Thomas’ Magen entstand automatisch der nächste Knoten. Was werden die anderen mit mir machen?, dachte er. Die schrecklichen Sachen, die sie gesagt hat. Etwas in der Art, sie und ich hätten den anderen das angetan. Hätten uns allen das angetan. Was soll das bloß bedeuten?
Urplötzlich überfiel ihn der Gedanke, dass er vielleicht verrückt war. Vielleicht hatte ihn der ganze Stress im Labyrinth durchdrehen lassen. Wie dem auch sein mochte: Tatsache war doch, er allein hatte die Stimme in seinem Kopf gehört. Sonst wusste niemand etwas über die seltsamen Dinge, die Teresa ihm vorgeworfen hatte. Sie wussten nicht mal, dass sie ihm ihren Namen verraten hatte. Na gut, niemand außer Newt.
Und so sollte es auch bleiben. Die Lage war auch so schon unangenehm genug – er würde sie auf keinen Fall jetzt noch dadurch verschlechtern, dass er herumerzählte, er hörte Stimmen in seinem Kopf. Das einzige Problem war Newt. Thomas musste ihn davon überzeugen, dass es nur Einbildung durch die Überanstrengung gewesen war, dass er sich jetzt schön ausgeschlafen hatte und alles wieder in Butter war. Ich bin nicht verrückt, sagte Thomas sich. Garantiert nicht.
Chuck musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Tut mir leid«, sagte Thomas, rappelte sich auf und versuchte sich so normal wie möglich zu benehmen. »Hab nur nachgedacht. Na los, gehn wir was essen, ich bin am Verhungern.«
»Gut, das«, sagte Chuck und gab Thomas einen Klaps auf den Rücken.
Sie gingen in Richtung Gehöft, wobei Chuck die ganze Zeit quasselte. Thomas hatte nichts dagegen – es war momentan das Einzige in seinem Leben, was noch halbwegs normal war.
»Newt hat dich letzte Nacht gefunden und allen eingeschärft, dass sie dich in Ruhe schlafen lassen sollen. Außerdem hat er uns gesagt, was der Rat der Hüter beschlossen hat – dass du einen Tag im Knast verbringst und dann mit dem Trainingsprogramm bei den Läufern anfängst. Ein paar Strünke haben gemosert, ein paar haben gejubelt und die meisten haben so getan, als wäre es ihnen vollkommen egal. Ich, also ich finde das ziemlichen Wahnsinn.« Chuck holte einmal tief Luft, dann redete er weiter. »In der ersten Nacht, als du hergekommen bist und angegeben hast, du würdest demnächst Läufer werden und der ganze Klonk – da hätt ich mich totlachen können. Da hab ich mir gesagt: Das arme Schwein, das wird noch ein unsanftes Erwachen. Na, jetzt hast du’s mir
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