Die Auserwählten
der venezianische Löwe in den Stein gemeißelt worden. Er sah grimmig über den Platz, der bereits fingerbreit unter Wasser stand. Obwohl die Kirche nicht weit entfernt war, würde Tommaso nasse Füße bekommen, aber daran war jetzt nichts zu ändern. Er musste eine Kerze für seine Mutter anzünden, auch wenn Schwester Magdalena gesagt hatte, er solle das Hospiz nicht verlassen, bevor sie mit ihm gesprochen hatte. Wenn jemand die Wichtigkeit einer solchen Kerze für die Toten kannte, dann wohl sie. Das Fegefeuer ließ nicht auf sich warten – jedenfalls nicht wegen einer Überschwemmung.
»Signore di Barbara.«
Tommaso wollte gerade gehen, als er den Mönch erblickte.
»Sie wollen gehen?«
»Um eine Kerze für meine Mutter zu entzünden. Und Sie?«
»Ich muss nur für einen Augenblick weg. Unsere Kardinäle kommen gemeinsam mit dem Justizminister nach Venedig«, antwortete der Mönch, und sein Gesicht hellte sich bei dem Gedanken etwas auf.
»Zum Bahnhof?«
»Ja. Ich bin gleich wieder zurück.«
Der Mönch schlug die Kapuze hoch und eilte davon – die großen Gummistiefel, die aus der Kutte herausragten, zeigten, dass er sich vorbereitet hatte. Einen Moment lang fühlte Tommaso sich frei. Vollkommen frei. Erlöst von den ewigen Empfangszeremonien, zu denen der Polizeichef sie nötigte, und erlöst von diesem Ort hier – dem Hospiz. Er war frei. Mit dem Geld für das Haus … wenn er es denn verkaufte … nein. Es war noch zu früh, um an so etwas zu denken. Er hatte ja noch nicht einmal eine Kerze für seine Mutter angesteckt. Das Gefühl der Freiheit wich den Schuldgefühlen, die ihn rasch in Richtung Kirche trieben.
65.
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Bella Center, Kopenhagen »Sind wir festgenommen worden?«, fragte Hannah, nachdem sie seit einer ganzen Weile schon in dem Container hockten, der eigentlich für Handwerker gedacht war.
»Natürlich nicht.« Niels entdeckte Sommersted durch ein Fenster, das man nicht öffnen konnte. Er überquerte den Platz, hinter dem die Demonstranten standen, und ging an den Schlangen der NGOs und Journalisten vorbei. Als er den Container erreichte, packte er die Klinke der Tür so fest, dass Hannah erschrak. Er schloss die Tür hinter sich und hatte ganz offensichtlich ein schlechtes Gewissen.
»Danke, dass Sie gewartet haben.«
»Hören Sie uns bitte zu«, sagte Niels. »Ich weiß selbst, wie verrückt das klingt.«
Sommersted zog seine schusssichere Weste ein Stück nach unten und nahm vor ihnen Platz.
Niels fuhr fort: »Wie ich schon zu sagen versucht habe, hat das Motiv des Mörders vermutlich etwas mit dem alten Mythos von den sechsunddreißig Gerechten zu tun. Kennen Sie den? Wir können alles ganz genau ausrechnen und glauben, die präzisen Koordinaten der nächsten Morde zu kennen. Einer davon wird im Rigshospital verübt werden.«
»Im Rigshospital?«
»Die Mathematik lügt nicht. Um es kurz zu machen, wir sind gezwungen, das Hospital zu evakuieren.«
Sie wurden unterbrochen, als Leon die Tür öffnete.
»Er ist auf dem Weg nach draußen.«
»Sind sie denn fertig?«
»Vermutlich machen die bloß eine Pause.«
»Danke, Leon.«
»Sie haben mich mit einer Aufgabe betraut«, begann Niels, drückte den Rücken durch und setzte auf eine neue Taktik. »Ich habe eine Reihe sogenannter guter Dänen besucht und sie gewarnt. Ein Name auf der Liste brachte mich in Kontakt mit Hannah Lund, die jetzt neben mir steht.« Niels sah von Hannah zurück zu Sommersted. »Sie müssen wissen, Sommersted, diese Frau ist ein Genie.«
Sommersted schüttelte den Kopf und blickte besorgt auf die Tischplatte.
»Ich kann nicht mehr länger die Hand über Sie halten, Niels. Erst besuchen Sie in Ihrer Freizeit Verbrecher im Gefängnis, und jetzt das hier.«
»Entschuldigen Sie, aber Sie müssen sich einmal die Fakten ansehen«, sagte Niels. »Wir haben eine Tatzeit: Heute Nachmittag bei Sonnenuntergang, also exakt um 15.48 Uhr. Wir haben einen Tatort: das Rigshospital. Und wir haben das Profil des nächsten Opfers. Ein guter Mensch, kinderlos, zwischen vierundvierzig und fünfzig. Sehen Sie sich doch die Fakten an.«
Sommersted schlug mit der Hand auf den Tisch. Vielleicht war es das Wort ›Fakten‹, das seine Wut entfacht hatte.
»Fakten?«, rief er. »Tatsache ist, dass ich Ihnen die Chance gegeben habe, eine einfache Aufgabe zu erledigen. Wie ich gesagt habe, eine einfache Aufgabe, ein simpler Vertrauensbeweis.«
Im gleichen Moment schien er bereits wieder zu bereuen, dass er wütend
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