Die Auserwählten
anders stellen: Was meinen Sie, wie viele Menschen befinden sich jetzt in diesem Augenblick hier im Krankenhaus?«
Der Mann sah Niels entgeistert an. Hannah zupfte Niels am Ärmel.
»Niels.«
»Wie viele davon sind zwischen vierundvierzig und fünfzig?«
»Niels, das ist sinnlos!«
»Warum?«
Sie sah den Mann hinter dem Tresen entschuldigend an und zuckte mit den Schultern.
»Niels.«
»Das muss doch möglich sein! Heute wird doch alles registriert. Da muss man doch herausfinden können, wie viele der Angestellten zwischen vierundvierzig und fünfzig sind und sich jetzt gerade im Haus befinden.«
»Und dann?«
»Dann müssen wir herausfinden, wer von ihnen am ehesten die Bezeichnung ›guter Mensch‹ verdient. Wir müssen einen Mord verhindern. Deshalb hast du mich doch angerufen, oder?«
»Ich weiß nicht … das ist zu vage.«
»Warum? Sieh dir doch mal die Liste der Opfer an. Kinderärzte, Pfarrer, Juristen, Lehrer – die meisten davon waren Menschen, die in Kontakt mit vielen anderen Menschen standen. Menschen, die anderen geholfen haben.«
Hannah seufzte tief. Wie Niels vorhin stellte sie sich auch gerade vor, wo sie jetzt stattdessen sein könnte. Am Meer. In einem Liegestuhl, mit Zigaretten und Kaffee, in ihrer eigenen Welt.
In einer Glasvitrine stand ein Modell des Rigshospitals. Niels beugte sich darüber und stützte sich dabei auf dem Glas ab. Er schwitzte so sehr, dass seine Hände Abdrücke hinterließen. Hannah stand neben ihm und betrachtete schweigend das Miniaturmodell. Das Hauptgebäude war sechzehn Etagen hoch, während sich die Gebäude des alten Hospitalteils über ein Areal erstreckten, das gut und gern ein ganzes Dorf hätte aufnehmen können. Plötzlich sah Niels zu Hannah hinüber. »Nein, du hast Recht. Wir machen das anders.«
63.
63.
Amager, Kopenhagen
Scheißinsel . Niels hasste diesen Ausdruck. Dies wurde ihm wieder einmal bewusst, als er die beiden Demonstranten an der Autobahn sah, die ein notdürftig gekritzeltes Schild in die Höhe hielten. »Willkommen auf der Scheißinsel – wo die Arschlöcher der Welt versammelt sind.« Auch Hannah sah sie, verkniff sich aber jedweden Kommentar. Schnee und Frost hatten sich im Bart eines der beiden verfangen und ließen ihn wie einen Verrückten aussehen, aber vielleicht traf das ja auch zu. Auf jeden Fall gehörte auch dieser Demonstrant zu denen, die von Großereignissen wie einer Klimakonferenz geradezu magisch angezogen wurden. COP 15 gab Nahrung für neue Konspirationstheorien und goss Wasser auf die Mühlen all jener, die in ihrer Paranoia beständig nach Zeichen der Apokalypse suchten: alle Entscheidungsträger der Welt an einem Ort versammelt. Und das auch noch dort, wo die Kopenhagener früher einmal ihre menschlichen Hinterlassenschaften deponiert hatten. Ein gewisser Symbolcharakter war tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Wenn man inzwischen auch eine dünne Asphaltdecke über das Marschland gezogen und darauf einen Stadtteil errichtet hatte, der am ehesten an die Zukunftsvisionen französischer Science-Fiction-Filme aus den sechziger Jahren erinnerte. Hochtrassen für führerlose Züge und gleichförmige, weiße Hochhäuser, die einem architektonischen Zeitgeist folgten, der noch davon ausgegangen war, dass die Zukunft die Individualität schwächen und das Kollektiv stärken würde. Nur, dass die Welt sich so nicht entwickelt hatte. Vor vierzig Jahren war man noch nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, die Welt würde zu einem Thermostat werden, das man auf-und zudrehen konnte. Na ja, in erster Linie auf.
Ein paar weitere Aktivisten trabten an der Autobahn entlang in Richtung Bella Center.
»Haben die heute die Irrenanstalt geöffnet?«, murmelte Niels.
Hannah versuchte sich an einem Lachen, es gelang ihr aber nicht recht.
»Bist du sicher, dass es gut ist, wenn ich dabei bin?«
»Ja, du musst das erklären.«
Hannah sah aus dem Fenster. Sie bereute alles, fühlte sich nicht in der Lage, irgendetwas zu erklären.
Bella Center. Ein schöner Name für ein Gebäude aus grauem Beton auf einer der flachsten Marschlandschaften Europas. Niels parkte den Wagen etwas abseits. Um bis zum Eingang zu fahren, brauchte man eine Sondergenehmigung. Das Bella Center unterstand während der Konferenz nicht der dänischen Jurisdiktion. Dafür war jetzt die UNO zuständig. Andernfalls hätte eine Handvoll Despoten gar nicht erst anreisen können. Staatschefs, die unter normalen westlichen Standards wegen ihrer
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