Die Auserwählten
Niels. Es könnte auch ein Patient sein.«
»Thor? Können Sie auch sehen, wer hier zurzeit liegt?«
»Natürlich.«
»Okay. Aber fangen Sie mit den Angestellten an. Ärzte, Hebammen, Wissenschaftler. Zwischen vierundvierzig und fünfzig, kinderlos.«
»Das kann ich im Register des Einwohnermeldeamts checken«, sagte Casper.
»Wir können froh sein. Es ist Freitagnachmittag. Der letzte Freitag vor Weihnachten, da haben viele bereits frei. Und andere haben sich früher freigenommen, nicht wahr, Thor?«
»Stimmt.«
»Gut. Ihr füttert mich mit Namen und Abteilungen. Ich nehme dann Kontakt zu den Kandidaten auf.«
»Und was hast du vor? Willst du rumlaufen und sie fragen, ob sie gut sind?«
Er sah Hannah eine ganze Weile an.
»Ja.«
»Niels … das ist … das geht nicht.«
Niels dachte nach. Dann nickte er. »Ja. Vermutlich nicht, aber vielleicht eben doch. Normalerweise müssen wir einen Mörder finden, aber in diesem Fall wissen wir nichts über den Mörder. Deshalb wollte ich ja das Krankenhaus evakuieren lassen. Aber das geht wirklich nicht.« Er machte eine Pause. »Wir wissen doch eine ganze Menge über die Opfer. Zwischen vierundvierzig und fünfzig. Keine Kinder. Dafür aber die besondere Fähigkeit, häufig und ganz unabsichtlich am richtigen Ort zu sein, wenn jemand ihre Hilfe braucht. Es ist eine Person mit Kontakt zu vielen Menschen. Mit einem Netzwerk.«
Er sah jetzt nur Hannah an. Und lächelte. »Es ist so, als säßen diese Menschen in der Mitte eines Spinnennetzes: Ihre Fühler sind in alle Richtungen ausgestreckt, und sie spüren, wenn jemand ins Netz fällt, und stehen bereit, ihm zu helfen.«
Alle drei sahen ihn abwartend an. Niels fuhr fort: »Warum sollte das so unmöglich sein? Ich habe zwanzig Jahre meines Lebens darauf verwendet, nach dem Bösen im Menschen zu suchen. Darüber wundert sich niemand mehr. Warum sollte ich da nicht wenigstens ein paar Stunden darauf verwenden, einen guten Menschen zu finden? Ist Güte schwerer zu erkennen als Bosheit?«
Er zeigte auf die untergehende Dezembersonne. Sie hing gerade noch über den Wipfeln der kahlen Bäume im Amorparken.
»Wir haben noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Und ja. Es wirkt ziemlich unmöglich. Fast lächerlich. Aber lohnt es sich nicht doch, diese eine Stunde darauf zu verwenden? Trotz der statistischen Unwahrscheinlichkeit, Erfolg zu haben?«
Ein paar Sekunden lang war nur das Summen der Computer zu hören. Alle dachten nach, dann sagte ausgerechnet Thor: »Ja.«
»Einverstanden«, sagte Casper, der den Glauben an sich selbst wiedergefunden hatte.
»Okay, dann los jetzt. Überprüft die Listen des Krankenhauses. Die Angestellten zuerst.« Er wandte sich an den verwirrt dreinblickenden Computerspezialisten.
Hannah loggte sich in den Computer ein, während Niels fortfuhr:
»Und dann überprüft über das Einwohnermeldeamt, ob die Kinder haben. Ruft mich an, wenn ihr jemanden habt.«
Thor sah von seinem Bildschirm auf. »Ich habe hier eine. Tanja Munck. Hebamme. Sie hat Spätdienst und ist jetzt im Haus. Ich sehe, dass sie sich eingetragen hat.«
»Personalnummer?«
Thor las die Nummer vor. Caspers Finger tanzten über die Tastatur. »Tanja Munck hat drei Kinder. 1993 rechtskräftig geschieden.«
Niels fiel ihm ins Wort. »Okay, gut, Nächste.«
Hannah hatte jemanden gefunden. »Thomas Jacobsen. Achtundvierzig Jahre. Wo sieht man, was der macht?«, fragte sie Thor.
»Personalnummer?«, fragte Niels.
»Hier.« Casper fand seine Daten beim Einwohnermeldeamt. »Keine Kinder. Eine eingetragene Partnerschaft mit einem anderen Mann.«
Hannah lächelte. »Ja und? Disqualifiziert ihn das?«
»Natürlich nicht. Finde heraus, wo er ist, und ruf mich an.«
»Arbeitet der jetzt?«
Thor rief an. Niels sah auf die Uhr, bevor er den Raum verließ. Das Letzte, was er hörte, war Thors Stimme. Sie war voller Enthusiasmus und überschlug sich fast.
»Zentrale? Hier ist die Finanzverwaltung: Thomas Jacobsen, hat der gerade Dienst?«
***
Weiße Flure, Rigshospital, 14.48 Uhr
In einer Stunde würde ein Mensch sterben.
Jeden Augenblick verlosch hier Leben. Im Durchschnitt zwanzigmal pro Tag. Im Gegenzug kamen aber auch etwa gleich viele neue. Niels’ Telefon klingelte. »Ja?«
Es war Hannah. »Thomas Jacobsen war eine Niete.«
»Wen hast du dann?«
»Geh in die Chirurgie.«
Eine Krankenschwester kam Niels entgegen.
»Zur Chirurgie?«, fragte er.
»Mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Linker
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