Die Auserwählten
Hand.«
»Danke.«
Er hörte Hannahs Stimme am Telefon. »Bist du bereit für ein bisschen Statistik, während du im Aufzug stehst?«
»Leg los.«
»Es gibt hier mehr als siebentausendfünfhundert Angestellte. Davon ist jeweils etwa die Hälfte im Dienst. Wir suchen aber nach denen zwischen vierundvierzig und fünfzig. Davon gibt es eintausendeinhundert.«
»Und wie viele davon sind jetzt im Haus?«
»Etwa die Hälfte.«
»Fünfhundertfünfzig Menschen?«, sagte Niels optimistisch.
»Davon brauchen wir die ohne Kinder. Ich gehe mal von einem Drittel aus, also etwa einhundertachtzig.«
»Und Casper wird wohl wiederum ein Drittel davon bei uns in der Kartei finden, oder?«
»Bleiben also einhundertzwanzig, statistisch gesehen.«
»Nach wem suche ich jetzt?«, fragte Niels.
»Nach einem Assistenzarzt. Peter Winther.«
Es war still auf dem Flur. Ein Fernseher lief ohne Ton und Zuschauer. Eine Krankenschwester sah von ihren Unterlagen auf, als Niels ihr seinen Dienstausweis zeigte.
»Peter Winther?«
»Der macht gerade Visite.«
»Wo?«
Sie zeigte den Flur hinunter. Niels sah einen Arzt mit einer größeren Gruppe in Weiß im Schlepptau aus einem der Zimmer kommen.
»Peter Winther?«
Niels ging ihm entgegen und zeigte schon von weitem seinen Ausweis. Der Arzt wurde blass.
»Wenn Sie bitte im Zimmer auf mich warten würden«, flüsterte er den Schwestern barsch zu.
»Polizei Kopenhagen.«
Niels sagte nur diese zwei Worte. Er sah dem Assistenzarzt an, dass er von sich aus reden würde. Und doch. Er starrte Niels an, während sein Hals rot anlief.
»Sie wissen ganz genau, warum ich hier bin.«
Der Assistenzarzt warf einen Blick über die Schulter und trat einen Schritt auf Niels zu.
»Nehmen Sie mich jetzt fest?«
»Nein. Ich will nur Ihre Version der Geschichte hören. Vorher wird keine Entscheidung gefällt.«
»Meine Version?« Der Arzt schnaubte. »Meine Version ist, dass die total übergeschnappt ist.«
Niels bemerkte die Speicheltropfen, die sich in seinem Mundwinkel sammelten.
»Und diese Diagnose würde Ihnen jeder Psychiater unterschreiben. Vor Gericht hat die doch keine Chance. Verstehen Sie? Außerdem war das Notwehr. Meine Narben sprechen da eine ganz deutliche Sprache.«
Peter Winther knöpfte den obersten Hemdknopf auf und entblößte seinen Hals. Lange Kratzwunden führten von seinem Hals nach unten. »Verdammt, wenn hier einer vor Gericht gehen sollte, dann eigentlich ich. Was würden Sie tun, wenn Sie eine Frau hätten, die …« Er kam noch näher, jetzt hatte er sich warm geredet. »Ja, ich habe ihr eine Ohrfeige verpasst. Eine! Eine einfache Ohrfeige, und das hätte ich schon vor drei Jahren tun sollen.«
Niels hatte eine SMS bekommen. ›Ida Hansen. Geburtshilfe. Hebamme.‹
»Und jetzt geht sie vor Gericht, also wirklich. Ich kann das echt nicht fassen. Sollte ich mir vielleicht einen Anwalt nehmen?«
Niels schüttelte den Kopf.
»Nein, danke für Ihre Zeit.«
Niels ließ Assistenzarzt Dr. Winther mit seiner kaputten Ehe und seiner Verzweiflung stehen.
***
»Rede mit mir, Hannah.«
Niels rannte.
»Sie ist Hebamme. Hat gerade Pause. Sie sollte in der Kantine sein, im Erdgeschoss.«
Er drückte hektisch auf den Fahrstuhlknopf.
»Können wir die nicht irgendwo versammeln?«
»Wie meinst du das?«
»So dass ich von einem zum anderen gehen kann? Wir schaffen das nie, wenn ich hier in diesem Riesenkrankenhaus ständig von einer Ecke zur anderen laufen muss.«
Hannah schwieg. Der Fahrstuhl ließ auf sich warten. Niels sah aus dem Fenster. Die Sonne war noch nicht einmal rot, obgleich sie immer tiefer Richtung Horizont sank. Er konnte Hannah atmen hören. Ein Schild zeigte in Richtung Geburtsklinik. Eine Mutter schob müde einen kleinen Wagen mit ihrem Neugeborenen vor sich her, während sie abwesend von einer Tafel Schokolade abbiss. Der Kleine starrte wie Niels in die Sonne. Was er wohl dachte? Wusste man es nicht besser, konnte man glauben, die Buchen im Park trügen die Sonne auf ihren Schultern. Sie sahen wie ein Trauerzug aus, der eine sterbende Sonne in Richtung Westen trug.
Mit einem Pling , das selbst Schwerhörige noch hören konnten, meldete der Fahrstuhl seine Ankunft.
»Ich bin jetzt im Fahrstuhl. Auf dem Weg nach unten.«
»Okay. Ida Hansen. Achtundvierzig. Hebamme. Beeil dich.«
Sie legte auf.
68.
68.
Cannaregio, Ghetto, Venedig
Die Farbe von Schwester Magdalenas Gummistiefeln war am ehesten als grelles Pink zu beschreiben.
Tommaso lächelte,
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