Die Auserwählten
als er sie über die Madonna Dell’Orto laufen sah. Der nördliche Teil der Stadt lag etwas tiefer als der Rest und stand deshalb schneller unter Wasser.
Er rief sie: »Schwester! Sie wollten mir etwas sagen? Eine Nachricht von meiner Mutter!«, aber der Alarm übertönte seinen Ruf, so dass sie im Hospiz verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wollte Tommaso nicht über die Dell’Orto-Brücke gehen und bis zum Knie nass werden, musste er bis zum nördlichen Kai zurücklaufen, der nur selten überschwemmt wurde. Er sah auf die Uhr. Der Weg über Fondamente Nove dauerte sicher eine Viertelstunde länger, und er hatte nur noch eine Stunde – höchstens – bis Sonnenuntergang. Die GPS-Koordinaten hatte er von der Frau aus Dänemark erhalten. Sie lauteten: 45.26’30 und 12.19’56. Er kannte sich mit GPS-Koordinaten nicht aus, aber sein Handy zeigte Längen-und Breitengrade an. Im Moment zeigte es 45.26’45 und 12.19’56 an. Tommaso wusste aber weder, wo er hinmusste, noch wie lange er bis dorthin brauchen würde, weshalb er das Gefühl hatte, sich auf den Weg machen zu müssen. Die Überschwemmung würde die Stadt noch für Stunden in ihrem nassen Griff haben, weshalb er nicht glaubte, dass Schwester Magdalena das Hospiz in der Zwischenzeit verließ. Außerdem: Was konnte sie ihm schon Wichtiges zu sagen haben?
Seine Schuhe und Strümpfe waren bereits klitschnass, als er in Richtung Süden an der Fondamenta dei Mori durch das Wasser lief. Er war mutterseelenallein auf der Straße. War es hier? Er stand vor dem Tintoretto-Haus. Ein Maler, den Tommaso sehr schätzte. Nicht wegen seines großartigen Gemäldes über die Grablegung des Heiligen Markus, sondern weil Tintoretto Venedig so gut wie nie verlassen hat. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte Tintoretto der Lagune den Rücken gekehrt, und angeblich soll er während seiner ganzen Reise schwer gelitten haben. Auch Tommaso hatte Venedig nie wirklich verlassen.
Die Koordinaten auf dem GPS-Empfänger sprangen plötzlich wild hin und her. Die Signale waren in den schmalen Gassen kaum zu empfangen.
Weiter, vorbei am Casino und am Canal Grande. Vielleicht ließ sich das Signal am breiten Kanal besser empfangen. Seine Gedanken waren noch immer bei Tintoretto. Nein, bei Markus. Vielleicht weil es angenehmer war, an den toten Evangelisten zu denken als an seine kürzlich verstorbene Mutter. Er dachte an den Leichnam des Markus: das erste Gemälde, das jedes venezianische Kind zu Gesicht bekam. Schließlich war er der Schutzheilige der Stadt, der dem großen Platz seinen Namen gegeben hatte. Zwei venezianische Kaufleute hatten seinen Leichnam in Alexandria gestohlen. Ohne Kopf, schenkte man den Leuten in Alexandria Glauben. Der soll sich nämlich noch in Ägypten befinden.
Der kopflose Leichnam, Mutters verschrumpelte Hand und die Farben des Todes suchten Tommaso heim, als er die Strada Nova erreichte. Wieder begann das GPS-Signal zu springen. Am Kanal sah er das Licht der untergehenden Sonne. Auf diese Weise würde er nie den richtigen Ort finden; Venedig war ebenso wenig für GPS-Signale gebaut wie für Autos, das war offensichtlich. Er brauchte einen Computer.
***
Der Eingang des Hauses stand unter Wasser. Mutters schwarze Schuhe, die gesammelten Reklamebroschüren und das Hundefutter schwammen in einem See aus Kanalwasser. Ein dünner Ölfilm von den Bootsmotoren zog sich über die Wasseroberfläche und versuchte, wie ein Regenbogen zu glitzern. Als er das Licht einschaltete, fiel der Strom aus. Das war die Sicherung. Aber der Akku seines Laptops war geladen, das wusste er. Drei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er über die Treppe nach oben. Er schaltete den Laptop ein und schüttelte den Kopf. Das Haus, in dem er stand, trotzte seit vierhundert Jahren den monatlichen Überschwemmungen, doch der Akku des tragbaren IBMs, den er erst vor einem halben Jahr gekauft hatte, hielt kaum noch durch. Jedenfalls zeigte ihm das Icon an, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb. Google Earth . Er suchte nach einer Möglichkeit, die Koordinaten einzugeben, fand aber nichts. Low on battery . Tommaso suchte die Lagune auf dem Erdball und zoomte Venedig hektisch ein. Dann platzierte er die Maus auf der Stadt, fuhr an seinem Haus vorbei und durch Ghetto weiter nach Westen. Er näherte sich. Low on battery. Save documents now . Er überprüfte die Zahlen auf dem Handy, schob die Maus noch eine Ahnung weiter nach Norden, und dann passte es.
Er lehnte sich zurück und
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