Die Auserwählten
waren schlechte Nachrichten gewohnt.
»Ich suche Ida Hansen.«
Niemand antwortete, dann hob jemand vorsichtig eine Hand. Niels stieg von dem Stuhl und ging zwischen den Reihen mit laminierten Tischen hindurch. Kantinenessen – heute gab es Hähnchen, Kartoffelpüree und Erbsen. Alle sahen ihn an. Die Gesichter der Ärzte strahlten Autorität aus.
»Ida?«
Sie ließ ihren Arm sinken. Hier stimmte etwas nicht, sie war zu jung.
»Nein, ich wollte nur sagen, dass sie gerade gegangen ist. Ist etwas passiert?«
»Gegangen? Wohin?«
Er warf einen Blick auf sein Telefon. Hannah rief jetzt schon zum dritten Mal an.
»Sie wurde zu einer kritischen Geburt gerufen und hat hier alles stehen und liegen gelassen.«
»Wie lange dauert so etwas?« Niels hörte selbst, wie dumm seine Frage war. Hannah rief schon wieder an.
»Einen Augenblick, bitte.«
Er nahm das Gespräch entgegen und trat einen Schritt zur Seite. »Hannah?«
»Niels. Wir haben eine neue Systematik gemacht. Statt nach …« Sie unterbrach sich. »Nein, ich erkläre dir nur die Kurzversion. Also, wir haben drei sehr qualifizierte Kandidaten. Vermutlich werden das aber noch mehr. Fang mal mit Maria Deleuran an. Sie arbeitet in der Pädiatrie. Sie hat unter anderem in Ruanda gearbeitet. Als medizinische Hilfskraft.«
Niels hörte Casper im Hintergrund sagen: »Und sie hat einige Artikel geschrieben, über den mangelhaften Einsatz des Westens, um endlich das AIDS-Problem in Afrika in den Griff zu kriegen.«
»Okay, ich mach mich auf die Suche.«
Er beendete das Gespräch und ging zurück zu Ida Hansens junger Kollegin.
»Wohin ist sie gegangen, was haben Sie gesagt?«
»Auf die Entbindungsstation.«
Niels zögerte. Er kam gerade von dort. Es würde fünf Minuten dauern, wenn er wieder zurückging.
»Was haben Sie für eine Meinung von ihr?«
Die junge Krankenschwester sah Niels verblüfft an.
»Was ich von Ida denke?« Sie lächelte ein kleines, entwaffnendes Lächeln.
»Können Sie sie leiden, ist sie eine nette Person?«
»Warum fragen Sie das? Können Sie nicht einfach warten, bis …«
Niels fiel ihr ins Wort. »Wie denken Sie über sie?«
»Hat sie etwas verbrochen?«
»Antworten Sie! Wie finden Sie sie? Ist sie nett? Gutherzig? Oder ist sie kalt und rücksichtslos? Würden Sie sagen, dass sie ein guter Mensch ist?«
Die Krankenschwester sah einen Augenblick lang zu ihren Kollegen hinüber. »Das weiß ich doch nicht. Ida versteht ihr Handwerk, sie ist gut, aber …«
»Aber?«
Niels sah sie an. Es war vollkommen still, bis sie aufstand, ihr Tablett mit dem nur halb gegessenen Hähnchenschenkel und ein paar Salatblättern nahm und ging.
71.
71.
Cannaregio, Ghetto, Venedig
Tommaso hatte im Medikamentenschrank seiner Mutter große Mengen an Schmerzmittel gefunden und einige Tabletten eingesteckt. Zu Hause nahm er – ohne die Packungsanweisung zu beachten – einen Cocktail farbenfroher Pillen, die er mit einem Glas lauwarmem Wasser herunterspülte. Er musste an den Fiebertest seines Vaters denken: ›Tut es weh, wenn du nach oben schaust? – Wenn ja, hast du Fieber.‹ Tommaso versuchte es und musste die Frage mit ›Ja‹ beantworten. Ihm war schwindelig. Er versuchte sich zu erinnern: Am Montag war das Briefing im Präsidium gewesen. Der Polizeichef hatte ihnen gesagt, wer abgesehen vom Justizminister sonst noch kommen würde. Er hatte einige Politiker angekündigt, an die Namen erinnerte er sich aber nicht mehr. Und ein Richter und der Kardinal sollten kommen. Aber es konnte alle treffen. Jeder konnte das nächste Opfer sein, trotzdem war Tommaso sich ziemlich sicher, dass es sich in dem Zug befand, der in wenigen Minuten im Bahnhof einfuhr. Wenn die Koordinaten denn die Wahrheit sagten.
Tommaso konnte die Sonne nicht sehen, nur den Lichtschein hinter den Häusern in Santa Croce. Ihm blieb kaum noch Zeit. Hatte die Dänin Recht und wurde der nächste Mord bei Sonnenuntergang begangen, kam es auf jede Minute an. Einen Moment lang verlor er den Glauben. Er sah auf die Tafel mit den Namen der Ermordeten und dachte, dass dieser Fall zum Fluch seines Lebens geworden war. Oder zum Segen? Die Zweifel ließen Tommaso nicht los. Wieder musste er an seine Mutter denken, an die Münzen in seiner Tasche und an den Hund. Mit welch anklagendem Blick er ihn angesehen hatte, als er ihn seinem ungewissen Schicksal überließ. Er verdrängte den Gedanken. Er musste zum Bahnhof.
Sein Rücken schmerzte, als er sich nach vorne beugte, um die
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