Die Auserwählten
singend. Vielleicht träumte er bereits.
***
»Niels Bentzon?«
Ein Mann in einem Kittel. Schon wieder ein neuer. Diese Wesen schien es hier in unbegrenzter Anzahl zu geben. Wo war Onkel Willy? War er überhaupt hier gewesen? Aber der trostlose Blumenstrauß, der auf dem Tisch stand, gab ihm die Antwort. Nur Willy schaffte es, mit einem Friedhofsstrauß in einem Krankenhaus aufzutauchen.
»Können Sie mich verstehen?«, fragte der Mann mit dem Kittel.
»Ja.«
»Ich habe gute Neuigkeiten.«
Niels versuchte zu fokussieren. Ein Schleier hatte sich vor seine Augen geschoben, so dass er den Eindruck hatte, die Augen unter Wasser geöffnet zu haben. »Gute Neuigkeiten?«
»Ihre Freundin.«
»Hannah?«, unterbrach Niels ihn.
»Sie ist nicht tot.«
»Nicht tot?«
»Sie wird es schaffen, Niels.« Der Mann lächelte. »Es ist höchst selten, dass jemand zweimal erfolgreich wiederbelebt wird. Ich bin Arzt und nehme das Wort Wunder nur selten in den Mund. Aber wenn ich jemals mit eigenen Augen ein Wunder miterlebt habe, dann in dem Augenblick, als Ihre Freundin vor ein paar Stunden die Augen aufgeschlagen hat. Es ist sogar möglich, dass sie keinerlei bleibende Schäden zurückbehält.«
Freundin . Wie ihn dieses Wort ärgerte. Der Arzt sagte noch mehr, aber Niels hörte nicht mehr zu.
»Ich will sie sehen.« Er sprach die Worte laut und deutlich aus.
»Das werden wir arrangieren. Sobald es möglich ist.«
»Ich muss sie sehen.«
»Sie müssen noch eine Weile hierbleiben.« Der Arzt sah sich um und winkte eine Krankenschwester zu sich. Er sagte es nicht laut, aber Niels zweifelte nicht daran, was er meinte: Ich kann hier nicht stehen und mit einem Patienten diskutieren. Ich habe anderes zu tun. Erklären Sie ihm, dass er hierbleiben muss.
Die Krankenschwester kam näher. »Niels, im Augenblick ist das leider noch nicht möglich. Sie liegen nicht auf derselben Station. Ihre Freundin ist ganz oben auf der Kardiologie.«
Sie zeigte aus dem Fenster, die unvollständige H-Form des Klinikums machte es möglich, dass man weit voneinander entfernt war, obgleich man im selben Gebäude lag. So weit, dass man nicht einmal die Menschen hinter den Scheiben auf der anderen Seite erkennen konnte.
»Bei jedem Transport eines Patienten droht die Gefahr der Überforderung, außerdem steigt das Risiko für Komplikationen. Sie müssen noch ein bisschen warten, Niels. Um Ihrer selbst willen. Wir haben Ihre Angehörigen verständigt.«
»Es ist wichtig.«
»Vielleicht können wir Ihnen ein Telefon besorgen. Wie wäre das?« Lächelnd berührte sie den Verband an seinem Kopf.
»Gut.«
Sie ging. Niels sah durch das Fenster zur anderen Seite hinüber. Einen Augenblick lang ließ er sich von seinen Erinnerungen einnehmen: Nordsee. Güterzug. Laden. Unfall. Egal, was du machst, Niels, du wirst in sechs Tagen doch wieder im Rigshospital landen . Das hatte Hannah gesagt. Das System .
»Niels Bentzon?«
Niels wurde aus seinen Gedanken gerissen. Der Mann stellte sich vor.
»Jørgen Wass. Dermatologe. Der junge Mann hier ist ein Student, der mich zurzeit begleitet.«
Erst jetzt bemerkte Niels den jungen, bebrillten Mann neben dem Arzt.
»Ich bin gebeten worden, mir Ihren Rücken anzusehen.«
»Jetzt?«
»Jetzt bin ich hier.« Er lächelte. »Ich arbeite nicht hier, verstehen Sie. Es gibt hier im Rigshospital ja keine dermatologische Station mehr. Wir sind aber zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, Sie nicht hin und her zu transportieren. Ich kann jetzt natürlich keine detaillierte Untersuchung vornehmen, ich möchte aber trotzdem einen Blick auf Ihren Rücken werfen, um abzuschätzen, ob eine Behandlung nötig ist, und wenn ja, welche. Können Sie sich auf den Bauch drehen?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, sah der Dermatologe zur Krankenschwester hinüber und fragte: »Ja? Sollen wir ihm helfen?«
Jørgen Wass zog sich Einweghandschuhe an. Niels hatte sich vorgenommen, nicht zu jammern, als sie ihn packten und auf den Bauch drehten. Die Krankenschwester zog sein Nachthemd hoch. Der Dermatologe setzte sich und nahm sich Zeit. Niels empfand die Wartezeit als demütigend.
»Brauchen Sie irgendetwas?« Der Student trat näher.
»Nein, danke. Ich hoffe, es geht für Sie?« Mit der letzten Frage wandte er sich an Niels.
Niels sagte nichts, als der Dermatologe seinen Rücken berührte.
»Tut das weh? Oder juckt das?«
»Nicht sonderlich.«
»Wo haben Sie das machen lassen?«
»Was?«
»Die Tätowierung. Oder …«
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