Die Auserwählten
Krankenakten. Das ist eine eigene Welt da unten. Geheimnisse über alles und jeden. Astrid Lindgren hat in aller Heimlichkeit hier im Rigshospital ihr Kind bekommen. Darüber finden Sie sicher etwas.«
Er sah sie an. Plötzlich glühte so etwas wie Euphorie in ihrem Blick. »Deshalb, es tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
»Nein, danke. Darf ich das Buch noch eine Weile behalten?«
»Natürlich.«
Sie verschwand und ließ ihn allein in seinem weißen Zimmer zurück. Er schlug das Buch auf. Sah das Foto von Thorkild Wornings Rücken. Wieder spürte Niels diesen Sog in seinem Bauch. Im Text neben dem Foto standen keine weiteren Informationen über Thorkild Worning. Niels blätterte. Er ließ seinen Blick über die Seiten wandern und hoffte, auf etwas zu stoßen, das er brauchen konnte. Es ging vorwiegend um Verbrennungen. Unangenehme Fotos: Kinder aus der Französischen Schule in der Frederiksberg Allé, die im Frühling ’45 versehentlich von der Royal Airforce bombardiert worden war. Menschen waren in den Flammen umgekommen, sechsundachtzig davon Kinder. Und viele der Verwundeten hatten schreckliche Brandwunden davongetragen.
Es folgten Artikel über alle Arten von Hautkrankheiten. Dann endlich – unter seltene Hauterkrankungen – tauchte das Worning Syndrome auf.
Niels konnte nicht mehr. Sein Körper wollte nicht mehr. Er schaffte es gerade noch, das Buch unter sein Kopfkissen zu schieben. »Worning«, murmelte er. »Worning wurde entlassen. Er hat überlebt.«
Überlebt .
10.
10.
23.22 Uhr, Donnerstag, 24. Dezember
Vielleicht hatte sie das alles ja nur geträumt. Hannah öffnete die Augen. Auf jeden Fall hatte sie geschlafen. Sie sah an sich selbst hinunter, blickte auf die Hand, die ein Blatt Papier umklammerte. Namen, Webseiten – Agnes hatte sie gebeten, all diese Orte einmal zu besuchen, wenn es ihr wieder besserging. Youtube: Dr. Bruce Greysons Rede vor der UN und auch bei Youtube: Dr. Sam Parnia on MSNBC.
Es stimmte wirklich. Die Studie über Nahtoderlebnisse wurde weltweit durchgeführt. Und Hannah hatte den Beweis geliefert, den Beweis dafür, dass das Bewusstsein frei und ohne Körper existieren konnte. Hannah war der Beweis.
Sie wollte zurück. Das war das Einzige, was sie wusste. Zurück zu dem Ort, an dem das Bewusstsein außerhalb ihres Körpers gewesen war. Zurück zu dem Ort, an dem sie Johannes treffen konnte. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, wurden immer wieder zurückgeworfen von der dicken Schale, die ihre nicht ganz unproblematische Intelligenz zusammenhielt. Eine Intelligenz, die sie ihrer eigenen Familie entfremdet hatte, ihren Freunden, ja selbst dem Leben, bis sie endlich im Niels-Bohr-Institut eine Heimat gefunden hatte. Da hatte sie ein paar gute Jahre gehabt, besonders die ersten, bis sie Gustav begegnet war. Sie hätten kein Kind bekommen sollen. Das Handicap, das sie Johannes mitgegeben hatten, war für einen einzelnen Menschen einfach zu groß. Und dass Intelligenz in einem solchen Grad ein Handicap war – daran zweifelte sie keine Sekunde. Es machte ihr nichts aus, die physische Welt zu verlassen.
Schließlich fielen all die schwierigen Mosaiksteinchen an ihren Platz. Wie eine Gleichung. Werte, die allem Anschein nach nicht miteinander vereinbar waren, konnten plötzlich vor ihren Augen nebeneinander existieren. Hannah lag im Bett und umklammerte das Blatt mit den Namen der amerikanischen und britischen Forscher, während sie die Puzzleteile vor sich sah: Johannes. Der Selbstmord. Das Bewusstsein. Niels. Das System. Die sechsunddreißig .
Sie wusste, dass sie weiter musste, raus aus diesem Körper.
Und sie wusste, wie Niels gerettet werden konnte.
»Wie schlimm sieht es aus?«, flüsterte sie, während sie die Decke zur Seite schlug und ihren zusammengeflickten Körper betrachtete. Viel klüger wurde sie dadurch nicht. Die Verbände verbargen das meiste. Vielleicht lag es an der Weihnachtsdeko, die eine Krankenschwester im Zimmer aufgestellt hatte, oder an den zahlreichen chemischen Substanzen, die man in sie gepumpt hatte, aber wenn sie so an ihrem verbundenen Körper nach unten schaute, bekam sie ganz kindliche Assoziationen. Sie musste an ein Weihnachtsgeschenk denken. Nur die Schleife fehlte, um sie unter den Christbaum zu legen.
Sie versuchte, ihre Beine aus dem Bett zu bekommen, aber sie wollten nicht. »Jetzt macht schon!«
Ein neuer Versuch. Dieses Mal strengte sie sich noch mehr an. Kalter
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