Die Auserwählten
Schweiß bildete sich auf ihrer Haut, gefolgt von Schmerzen: Nacken, Rücken, Schenkel. Aber sie gab nicht auf und schob die Beine aus dem Bett, bis sie auf den Füßen stand. Dann zog sie mit einer raschen Bewegung die Kanüle aus ihrer Hand, um sich von der Infusion zu befreien. Sie spürte das warme Blut zwischen ihren Fingern hindurchlaufen und presste die andere Hand auf ihren Handrücken, um den Blutfluss zu stoppen. Dann ging sie langsam zur Tür.
Man sparte auch im Rigshospital Strom. So schaltete sich das Licht erst ein, als Hannah an einem Sensor vorbeihumpelte. Unten am Ende des Flures hastete eine Krankenschwester vorbei. Sonst war niemand zu sehen. Hannah kam nur mit Mühe vorwärts. Und es gab noch ein Problem: Sie kannte sich in diesem Krankenhaus nicht aus, hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Zwei Ärzte näherten sich, Hannah öffnete eine Zimmertür, schlüpfte hinein und schloss sie wieder. Wartete.
»Das ging aber schnell.« Die Stimme versetzte Hannah einen Schock.
Es war eine junge Frau, höchstens zwanzig, mit eingegipstem Hals. Sie konnte kaum sprechen. »Ich habe so starke Schmerzen, ich musste Sie einfach rufen.«
Hannah trat einen Schritt näher. Das Mädchen konnte nicht einmal den Kopf heben.
»Ich bin keine Krankenschwester, sondern eine Patientin wie Sie.«
»Haben Sie sich verlaufen?«
»Ja.«
Sie sahen sich an und suchten nach Worten, um der Situation einen Sinn zu geben.
»Gute Besserung. Ich wünsche Ihnen alles Gute«, verabschiedete Hannah sich. Sie hatte keine Zeit. Sie musste Niels finden.
»Was tun Sie hier?«
Hannah stieß mit der Krankenschwester fast zusammen. »Sie sollten eigentlich in Ihrem Bett liegen.« Die Schwester versuchte, freundlich zu klingen, aber Ärger und Müdigkeit waren nicht zu überhören.
»Aber ich muss Niels …« Mit einem Mal bemerkte Hannah, dass sie die Hand der Krankenschwester umklammert hielt. »Nein, Sie müssen ins Bett. Sie haben einen sehr schweren Unfall hinter sich und brauchen Ruhe.«
»Ich muss Niels finden. Sie müssen mir helfen.«
Hannah löste ihren Griff. Sie hatte keine Ahnung, woher sie plötzlich diese Kraft hatte, als sie überraschend schnell über den Flur davonhinkte. Hinter sich hörte sie die Schwester rufen:
»Könnte mir mal jemand hier draußen helfen?«
Hannah sackte zusammen. Als die Krankenschwester sie erreichte, versuchte Hannah, sie abzuwehren und schlug mit der Hand nach hinten. Es war kein harter Schlag, aber sie traf die Schwester im Gesicht. Plötzlich waren überall Menschen in Kitteln. Hannah verstand nicht, wo die alle herkamen oder noch vor einem Augenblick gewesen waren.
»Sie hat mich geschlagen.« Die Krankenschwester war den Tränen nahe.
Hannah wurde von starken Armen hochgehoben, doch bevor man sie zu ihrem Zimmer führte, nahm sie die Hand der Schwester und flüsterte: »Entschuldigung«, aber vermutlich hörte sie Hannah gar nicht.
In ihrem Zimmer wurde ihr eine neue Kanüle gelegt und die Infusion angeschlossen. Hannah wehrte sich.
»Lassen Sie mich los!«
Beruhigende Stimmen redeten auf sie ein; ruhig, alles wird gut werden, beruhigen Sie sich jetzt .
»Loslassen!« Dann schrie sie. »Niels! Niels!«
Aber ihre Stimme wurde wie bei einem Echo zurückgeworfen, so dass sie sich nicht sicher war, ob sie das alles nicht bloß träumte.
11.
11.
23.40 Uhr, Donnerstag, 24. Dezember Vielleicht war es noch immer Heiligabend. Niels starrte nach draußen auf den Schnee. Er wusste nicht, wie lange er wach gewesen war, als die Tür hinter ihm aufging.
»Niels? Ein Anruf für Sie. Es ist Hannah.«
Randi stand mit dem Telefon in der Hand in der Tür. »Haben Sie die Kraft dafür? Ich glaube, es ist ihr sehr wichtig, mit Ihnen zu reden. Sie hat versucht wegzulaufen, um Sie zu finden.«
Er wollte ›Ja‹ sagen, aber das Wort steckte wie ein Kloß in seinem Hals fest. Sie reichte ihm das Telefon.
»Hannah?«
»Niels?«
»Du lebst.«
Er konnte hören, dass sie lächelte. »Ja, ich lebe. Aber es ist etwas absolut Unglaubliches geschehen.«
»Hast du es auch gesehen?«
»Das gestreifte Baby?«
»Baby? Wovon redest du?«
»Niels, ich war tot. Zweimal. Ich war neun Minuten lang weg.«
Niels sah aus dem Fenster, während Hannah von ihrem Tod und ihrer Rückkehr erzählte. Und davon, dass sie gesehen hatte, was auf dem kleinen Regalbrett oben unter der Zimmerdecke lag. Für ein paar lange Sekunden genossen sie die Stille und das Geräusch ihres Atems.
»Ich würde dich jetzt so
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