Die Auserwählten
letzten Sprossen hoch und erreichte mit den Fingern das Papier, das oben auf dem Regal lag. Ohne einen Blick darauf zu werfen, kletterte sie wieder nach unten und stellte sich vor Hannah. »Sind Sie bereit?«
9.
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Intensivstation, Rigshospital
Erst hatte Niels die Nachtschwester inständig um einen Laptop gebeten. Es war doch schließlich Weihnachten. Als der aber ausblieb, endete es damit, dass er ihr drohte und sie bat, an seinen Schrank zu gehen und Pistole und Handschellen herauszuholen. Die Schwester hatte lachend mit dem Kopf geschüttelt, war dann schließlich aber doch mit einem alten Laptop zurückgekommen. Seine Finger trafen kaum die kleinen Tasten. Worning Syndrom. Enter . Unmengen von Treffern für das Wort Syndrom, aber nur wenige für das Worning Syndrom. Niels klickte sie an. Die gleichen Bilder wie im Buch. Der magere Mann. Dunkle, kurze Haare. Dünne Beine. Er war unbekleidet und hatte dem Fotografen den Rücken zugedreht. Niels las:
Rare skin disease usually connected to religious hysteria. Worning Syndrome begins as depressed lines or bands of thin reddened skin, which later become white, smooth, shiny, and depressed, occurring in response to changes in weight or muscle mass and skin tension.
Seine Lesebrille fehlte ihm. Er drehte die Bildschirmhelligkeit hoch und las weiter: erster bekannter Fall in Südamerika, 1942. Dann ein paar Fälle in den USA und schließlich der Fall im Rigshospital. Thorkild Worning. Funker. Seltsam, normalerweise war es der erste bekannte Patient, der einem Syndrom seinen Namen gab. Oder der Name des Arztes, der es entdeckt hat. Niels’ Herz ließ einen Schlag aus. Er las den Satz noch einmal: In den meisten Fällen tödlich – affecting the organ system . Nicht aber bei Thorkild Worning. Er wurde aus dem Krankenhaus entlassen. Er überlebte.
***
23.15 Uhr, Donnerstag, 24. Dezember
Die Stationsschwester zupfte ihren Kittel zurecht und sah Niels abweisend an.
»Warum nicht? Ich habe einen Namen. Thorkild Worning. Er ist doch schon lange tot.«
»Ich darf das nicht.«
Niels warf ihr seinen eindringlichsten Blick zu. Die Krankenschwester war einen Moment lang unschlüssig.
»Und wenn Sie mitgehen? Oder können wir vielleicht einen Arzt dazu bringen, für uns nach unten zu gehen?« Niels änderte seine Taktik und sprach eine Spur lauter: »Hören Sie: Ich muss nach unten ins Archiv. Das ist von allergrößter Wichtigkeit.«
»Aber ich bin es doch nicht, die die Regeln macht«, sagte sie. »Es ist einer Krankenschwester nur erlaubt, ins Archiv zu gehen, wenn ein Arzt eine bestimmte Krankenakte braucht. Und das kommt äußerst selten vor. Außerdem ist es mitten in der Nacht. Noch dazu Weihnachten. Da unten ist alles abgeschlossen.«
Niels seufzte. Es brachte nichts, sie unter Druck zu setzen. Natürlich waren die Krankenakten im Keller des Rigshospitals nicht frei zugänglich. Krankheiten, Behandlungen und Todesursachen waren ohne Zweifel die sensibelsten persönlichen Daten, die man sich nur vorstellen konnte. Er fragte sich, was Casper im Präsidium wohl sagen würde, wenn ein beliebiger Passant von ihm verlangte, Einblick in die Polizeiakten zu bekommen.
»Und den Schlüssel können Sie nicht besorgen?«
»Herr Bentzon, Sie verstehen nicht. Nur zwei oder drei Personen der vielen Tausend Angestellten des Krankenhauses haben Zugang zum Archiv. Das ist Bjarnes Domäne.«
»Bjarne?«
»Unser Archivar. Sämtliche Patienten, die in den letzten siebzig Jahren hier waren, sind da unten erfasst. Jede Blutprobe, die hier im Haus untersucht worden ist, ist registriert; jede noch so kleine Tablette, die ein Patient genommen hat, ist in einem sinnreichen System verzeichnet, das nicht jeder versteht.«
»Aber Bjarne versteht was davon?«
»Der versteht das im Schlaf.«
»Braucht man ein Codewort? Vermutlich haben wir es ja mit einer Computer-Datenbank zu tun.«
»Erst seit 2000.«
»Was? Erst seit 2000?« Niels hörte selbst, wie ungeduldig er klang.
»Also: Die Daten sind erst ab dem Jahr 2000 digitalisiert. Der gesamte Rest besteht aus Papier. Mappen und Blätter.«
»Das muss doch eine Unmenge an Raum beanspruchen.«
»Fünfzehn Kilometer. Mehr als fünfzehn Kilometer. Aber die Digitalisierung ist vermutlich zu teuer. Es gibt Leute, die sagen, dass es mindestens zehn Jahre dauert, bis alles übertragen ist. Deshalb bestehen große Teile des Archivs noch heute aus Metallschränken, Regalen, Schubladensystemen, Aufnahmebüchern, Kartotheken und
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