Die Auserwählten
Schutzwall. Ich kümmere mich um die Bluthunde in Christiansborg und um die diversen Zeitungsredaktionen. Sie müssen nur tun, was Sie immer getan haben: Verbrecher jagen, sie ins Gefängnis stecken und den Schlüssel wegschmeißen.«
Niels lächelte nur. Sommersted hatte durchaus Humor.
»Rechtzeitige Vorsorge, Bentzon. Betrachten Sie das als eine vertrauenschaffende Maßnahme. Zwischen Ihnen und mir. Und schöne Ferien, sollten Sie es denn wirklich so weit schaffen.«
11.
11.
Archiv des Polizeipräsidiums, Kopenhagen
»Gute Menschen?« Caspers Stimme beinhaltete nicht die Spur von Sarkasmus. Nur aufrichtige Neugier. »Sie suchen nach guten Menschen?«
»Genau.« Niels setzte sich auf die Tischkante und sah sich in dem nüchternen Computerraum um. »Wir sollen die Guten finden, können Sie mir da helfen?«
Casper hatte sich bereits vor den Computer gesetzt, ohne Niels einen Stuhl anzubieten. So war es immer im Archiv. Obwohl das Büro den anderen Arbeitsräumen im Haus glich – es war lediglich ein bisschen größer –, hatte man immer das Gefühl, in das Haus eines Fremden eingedrungen zu sein. Nie wurde einem ein Kaffee oder ein Platz angeboten. Nie gab es Höflichkeitsfloskeln. Niels wusste nicht, ob die Archivare ihn einfach nicht mochten oder ob es ihnen an sozialen Umgangsformen mangelte. Vielleicht hatten sie durch die vielen Jahre in staubigen Archiven und die bloße Anwesenheit von Inhaltsverzeichnissen, Mappen und Regalen ihre sozialen Fähigkeiten verloren und stattdessen die Angst entwickelt, Eindringlinge wie Niels könnten ihre penible Ordnung stören. Ja, dass jeder, der durch die schweren, schwarzen Holztüren trat, Chaos mitbrachte.
»Die Kunst, ein guter Mensch zu sein«, sagte Casper, nachdem er »guter Mensch« gegoogelt hatte. Er fuhr fort: »Erster Treffer: Jesus.«
»Das ist doch schon mal was, Casper.«
Casper sah von seinem Bildschirm auf, er schien sich über Niels’ Kompliment aufrichtig zu freuen. Ironie taugt hier drinnen nichts, erinnerte sich Niels. Natürlich nicht. Ironie führt nur zu Missverständnissen, und Missverständnisse können zu Indexfehlern führen, und dann ist ein wichtiges Buch, eine Akte oder vielleicht der entscheidende Beweis für immer verloren. Im Archiv lagerten mehr als dreihunderttausend registrierte Fälle. Niels war noch nie dort gewesen – nichtautorisierten Personen war der Zutritt strengstens verboten –, aber die wenigen, die schon einmal einen Fuß hineingesetzt hatten, beschrieben die Lager als eine Polizeihistorische Schatzkammer. Einige Fälle sollten noch aus dem dreizehnten Jahrhundert stammen. Darunter auch viele ungeklärte Mordfälle – mehr als hundert seit Kriegsende. Natürlich hatten einige der Täter inzwischen längst das Zeitliche gesegnet und ihre Strafe im Jenseits angetreten. Statistisch gesehen liefen aber noch immer an die vierzig Mörder frei herum. Ganz zu schweigen von den Menschen, die einfach verschwunden waren. Manche waren abgehauen, andere hatten sich so gut versteckt, dass sie nicht einmal in der Statistik der ungeklärten Mordfälle auftauchten.
Viele von Niels’ Kollegen beantragten nach ihrer Pensionierung die Erlaubnis zur Nutzung des Archivs, um ihre Jagd auf die Verbrecher fortzusetzen. Auch wenn Doppeldeutigkeit hier unten fehl am Platz war, konnte sich die Nutzung dieses Ortes nicht von einer gewissen übergeordneten Ironie freisprechen: Erst wenn die Kommissare pensioniert wurden, hatten sie genug Zeit, um die Arbeit zu tun, für die sie im Dienst gewesen waren. Denn im Dienst ging viel zu viel Zeit durch unnötigen Papierkram verloren. Beständig mussten Berichte und Dokumentationen verfasst werden, die niemand las und für die sich niemand interessierte. So richtig schlimm war es in den letzten acht bis zehn Jahren geworden. Die Regierung redete von einem Ende der Papierflut und der überflüssigen Bürokratie, die Realität aber sah ganz anders aus. Dabei gab es draußen auf der Straße wirklich genug zu tun: Rockergruppen, Bandenkriege, bestialische Gewalt in allen Schattierungen, die Räumung des Jugendzentrums mit all ihren Folgen, junge Einwanderer, die den Unterschied zwischen einem Einweggrill und dem Auto ihres Nachbarn nicht zu kennen schienen, moralisch abgestumpfte Geldhaie, beständig auf der Suche nach der nächsten Firma, die sie melken konnten, osteuropäische und arabische Kleingangster, afrikanische Prostituierte, psychisch kranke Stalker, die aus Geldgründen kein eigenes Bett
Weitere Kostenlose Bücher