Die Auserwählten
Vielleicht lag das an dem Ort, an dem er sich befand. An all den unaufgeklärten Morden. Niels hasste die Ungerechtigkeit mehr, als er die Gerechtigkeit liebte. Ein unaufgeklärtes Verbrechen – Mord, Vergewaltigung, Überfall – konnte ihm den Schlaf rauben. Zorn und Wut: Es war die Energie, die der Ungerechtigkeit innewohnte, die ihn antrieb. Aber wenn er erlebte, wie ein Verbrecher verurteilt wurde, wenn er zusah, wie ein Verurteilter aus dem Gericht abtransportiert wurde, herrschte in ihm oft ein ganz unerklärliches Gefühl der Leere.
»Okay. Wie viele wollen Sie?«, fragte Casper von seinem Platz aus.
Niels sah auf seine Uhr. Kurz nach zehn. Spätestens um sechs Uhr wollte er nach Hause, um zu packen. Außerdem musste er noch mehr von den Pillen schlucken. Acht Stunden. Eine Stunde pro Gespräch. Er würde alle persönlich aufsuchen müssen. Eine potenzielle Morddrohung, wie unwahrscheinlich sie auch war, konnte man nicht telefonisch überbringen, dachte er.
»Geben Sie mir die ersten acht.«
»Soll ich sie Ihnen ausdrucken?«
»Ja, danke.«
Die Maschine summte. Niels betrachtete die Liste. Die Crème de la Crème der Wohltätigkeitsindustrie. The best of the best . Man konnte irgendwelche Passanten auf der Straße befragen, und sie würden die meisten dieser Namen nennen.
»Sollen wir die Namen mit unserer Datenbasis abgleichen?« Casper hatte ein Lächeln auf den Lippen. Der Gedanke war verlockend. Hatten die Personen mit den meisten Treffern bei dem Schlagwort »Wohltätigkeit«, die Fürsprecher der Armen und die Lieblinge der Medien, eine Polizeiakte? Waren sie auch aus polizeilicher Sicht gute Menschen?
»Was meinen Sie? Das dauert nur zwei Minuten.«
»Nein. Ist nicht nötig. Es geht ja um die Meinung der anderen über diese Menschen.«
Susanne warf einen Blick über Niels’ Schulter.
»Da seht ihr’s. Die von Save the Children ist auf der Liste«, sagte sie erleichtert.
»Was macht denn Mærsk da drauf?« Casper studierte die Suchresultate und schüttelte den Kopf.
»Mærsk hat weltweit bei so vielen Projekten seine Finger im Spiel, dass sein Name in jedem Fall auftaucht, egal welche Suchbegriffe wir verwenden. Der finanziert mit seinen Steuern sicher Hunderte von Grundschulen. Aber würden wir nach den verhasstesten Dänen suchen, wäre der sicher auch dabei. Soll ich ihn von der Liste nehmen?«
»Ja, bitte. Der wird wohl kaum als Erster in der Schusslinie stehen.«
»Wer ist der Erste?«, fragte Susanne.
»Thorvaldsen.« Niels wunderte sich über ihre Unwissenheit. »Das ist doch der Generalsekretär vom Roten Kreuz.«
Eine neue Liste verließ den Drucker. Mærsk hatte seinen siebten Platz jetzt für einen prominenten Pastor geräumt.
»Alles alte Bekannte«, konstatierte Niels. »Bis auf Nummer acht. Den kenne ich nicht.«
»Gustav Lund. Elftausendzweihundertsiebenunddreißig Treffer bei den Worten ›Retten‹ und ›Welt‹. Schauen wir doch mal nach«, sagte Casper und tippte den Namen bei Google ein. Ein Professor mittleren Alters mit eindringlichem Blick erschien auf dem Bildschirm.
»Hübscher Mann«, sagte Susanne trocken.
»Gustav Lund. Professor der Mathematik. Bekam 2003 zusammen mit zwei kanadischen und drei amerikanischen Kollegen den Nobelpreis für Physik. Hm … Sein Sohn beging Selbstmord, als er gerade mal zwölf war.«
»Davon wird man noch kein schlechter Mensch.«
Niels und Casper waren sich offenbar nicht ganz einig.
»Was ist das Gute an ihm?«, fragte Susanne.
»Das ist die Frage.« Casper überflog den Text auf dem Bildschirm. »Ja, hier steht’s: In Verbindung mit der Preisverleihung hat er gesagt, dass es ein ›Mathematiker sein wird, der die Welt rettet‹. Dieser Satz ist offensichtlich im großen Stil zitiert worden. Soll ich ihn von der Liste nehmen und stattdessen Nummer neun aufnehmen? Einen Klimaforscher aus …«
»Nein, ist schon gut.« Niels warf noch einen Blick auf die Liste. »Es muss auch Raum für Überraschungen geben.«
12.
12.
Flughafen Arlanda, Stockholm – Schweden Als Abdul Hadi das Flugzeug verließ, wich er den Augen der Stewardess aus und blickte zu Boden. Das ging nicht. Sie repräsentierte den Westen, war sein Eigentum. Es gab wirklich keinen Grund, sich etwas anderes einzubilden. Außerdem erinnerte sie ihn zu sehr an seine Schwester. Auch wenn sie ihr ganz und gar nicht ähnlich sah. Aber sie war genau in dem Alter, das heute auch seine Schwester hätte, wäre sie nicht mit acht gestorben. Achtunddreißig.
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