Die Auserwählten
wissen nicht, woran sie bei Ihnen sind, Niels. Plötzlich sind Sie weg, krankgeschrieben, und dann laufen Sie rum und besuchen Psychopathen.«
Niels wollte protestieren, doch Sommersted unterbrach ihn sofort. »Aber Sie haben ein ganz besonderes Talent. Daran gibt es keinen Zweifel.«
»Dass ich gut mit Leuten reden kann?«
»Sie sind ein guter Vermittler. Sie können ihnen ihre Taten fast immer ausreden. Ich wünschte mir nur, Sie wären nicht so …«
»Wie?«
»So seltsam. Reisephobie und manisch. Befreundet mit Psychopathen.«
»Einem einzigen Psychopathen. Bei Ihnen klingt das so, als …«
Sommersted unterbrach ihn erneut. »Können Sie sich nicht ein einziges Mal anpassen?« Niels sah zu Boden. Anpassen? Noch bevor er antworten konnte, fuhr der Vizepolizeipräsident fort: »Sie sind quasi auf dem Weg in den Urlaub, nicht wahr?«
»Nur eine Woche.«
»Okay. Hören Sie: Ich war froh über Ihren Einsatz gestern. Was halten Sie davon, dass wir es wieder versuchen? Ganz langsam anfangen?«
»Gern.«
»Ich habe einen Fall. Keine große Sache. Ich möchte, dass Sie mit einigen Personen Kontakt aufnehmen. Mit ihnen reden.«
»Darauf verstehe ich mich ja, haben Sie gesagt.« Niels konnte sich den Sarkasmus einfach nicht verkneifen.
Sommersted sah ihn verärgert an.
»Mit wem soll ich reden?«
»Mit guten Menschen.«
Sommersted wühlte durch die bescheidene Sammlung Papiere, die auf seinem Schreibtisch lag, während er kopfschüttelnd den täglichen Strom von »Red Notice« von Interpol kommentierte.
»Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten, an die Geräusche der Telexgeräte?«
Na, herzlichen Dank. Niels erinnerte sich gut an das Telexgerät, über das die Fahndungsmeldungen und Aktualisierungen aus dem Interpol-Hauptquartier in Lyon eingingen. Daraus war jetzt ein Computer geworden. Oder tausend Computer. Seinerzeit lief das Telex ununterbrochen. Die monotonen Geräusche des mechanischen Druckers erinnerten einen daran, dass die Welt immer mehr vor die Hunde ging. Wollte man einen kurzen, konzentrierten Blick ins Elend werfen, musste man sich bloß zwanzig Minuten vor diese tickernde Maschine stellen: Serienmörder, Drogenschmuggel, Prostitution, Menschenhandel, Trafficking, internationaler Kinderhandel und angereichertes Uran. Nicht zu vergessen die weniger dramatischen Sachen, wie den Handel mit bedrohten Tierarten, Löwen, Geparden, seltenen Papageien, ja sogar Delfinen. Die Liste war endlos. Kunstgegenstände und rare historische Objekte. Stradivari-Geigen und Schmuck aus dem Vermächtnis des russischen Zaren. Man hatte noch nicht einmal ein Tausendstel von dem gefunden, was Nazideutschland aus den besetzten Ländern gestohlen hatte. Irgendwo in den kleinen deutschen Häusern und Kellern mussten sich noch Diamanten, Diebesgut und Goldschmuck aus dem byzantinischen Reich verstecken, Malereien von Degas und Goldbarren aus dem Besitz jüdischer Familien. Die Suche danach war noch immer nicht eingestellt worden. Stand man vor diesem Telexgerät, bekam man immer irgendwann Kopfschmerzen und die große Lust, schreiend wegzulaufen. Ins Meer zu springen und sich zu wünschen, man wäre nie daraus emporgestiegen und die Dinosaurier wären noch immer die dominierenden Arten auf dieser Erde.
Doch jetzt lief alles über den Großserver von Interpol, mit dem alle Mitgliedsländer verlinkt waren. Sein unauffälliger Name lautete I-24/7, und er war wie ein 7-Eleven nie geschlossen. Wie die Technologie waren aber auch die Bedrohungen fortgeschritten. Selbstmordattentäter, Bioterror, Hacking, Kinderpornografie, Kreditkartenbetrug, unerlaubter Emissionshandel, Steuerbetrug und Geldwäsche. Und die Korruption innerhalb der EU hatte man auch noch nicht in den Griff bekommen. Es war durchaus möglich, dass Interpol durch die modernen technischen Möglichkeiten über eine neue Waffe gegen die Kriminalität verfügte, aber die Verbrecher kannten und nutzten diese Technik mindestens ebenso gut. Vielleicht haben wir letzten Endes gar keinen Vorteil davon. Dieser Gedanke war Niels schon häufiger gekommen. Vielleicht war es damals tatsächlich noch besser, als nur das Telex lief und einen rund um die Uhr mit seinem gellenden, kreischenden Geräusch an das Elend in der Welt erinnerte.
»Red Notice«, sagte Sommersted, als er endlich das richtige Blatt in seinem Aktenstapel fand. »Anscheinend werden die Guten umgebracht.«
»Die Guten?«
»Es sieht so aus. Überall auf der Welt: China, Indien, Russland, USA.
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