Die Auserwählten
Göttliche im Innern spüren konnte. Seine Brüder und Schwestern mussten es nicht am ausgestreckten Arm vor sich her tragen. Er warf noch einmal einen Blick auf die Jesusfigur. Eine kindliche Faszination, fand er.
»Wir haben die Schrauben gelockert.« Mohammed zeigte auf ein Kellerfenster auf einer der Fotografien. »Das hat uns drei Abende gekostet. Aber wir sind unbemerkt geblieben. Mit Sicherheit. Alle vier Schrauben sind fast rausgedreht. Das Fenster sollte ohne Schwierigkeiten aufgehen.«
Abdul Hadis Magen knurrte – seit Stunden hatte er nichts gegessen außer den Erdnüssen, die ihm die Stewardess gereicht hatte. Seine Gedanken glitten kurz zu ihr zurück; die blonden Haare, die leichte Berührung ihrer Hand. Aber er schien nicht an sie denken zu können, ohne dass nicht auch seine tote Schwester auftauchte. Und der Junge, den Vater überfahren hatte. Zwei Leben; zwei Leben hatte es gekostet, dass er jetzt hier saß. Da war es nur gerecht, dass er etwas zurückzahlte. Und sinnlos, an die Stewardess zu denken. Wenn sie ihn nur nicht angelächelt hätte. Nicht auf diese Weise.
13.
13.
Polizia di Stato, Venedig
Das Päckchen mit der Kassette lag auf dem Tisch im Konferenzraum. Möglicherweise war das die einzige existierende Aufnahme von einem der Morde. Sie war nur mit größten Mühen aufzutreiben gewesen, doch jetzt lag sie vor ihm.
Tommaso di Barbara rieb sich die Augen und starrte auf das kleine, zierliche Päckchen. Er hatte unzählige Opfer gefunden, tappte aber vollkommen im Dunkeln, wie und wo er den Mörder suchen sollte.
Commissario Morante kam nicht allein. Tommaso hörte die Schritte draußen auf dem Flur. Offizielle Schritte, exakt im Takt. In der Musik ist das schön, dachte er, nicht aber wenn Menschen im Gleichschritt gehen. Dann kommen sie meist, um etwas zu tun, das zu brutal ist, um es allein zu erledigen. Die Tür ging auf, und der Commissario schaffte es, Platz zu nehmen und dem Personalchef, irgendjemandem vom Festland, den Tommaso nicht kannte, und sich Wasser einzuschenken, bevor er Tommaso auch nur eines Blickes würdigte. Tommaso versuchte, gesund auszusehen, wie auch immer man das anstellte, wenn man Fieber und Kopfschmerzen hatte.
»Das war vielleicht eine Nacht. Also die Witwe von diesem Glasbläser.«
»Hat sie gestanden?«, fragte Tommaso.
»Ja, heute früh. Aber erst als Flavio den Pastor geholt hat.«
»Und, hatte es etwas mit einer Lebensversicherung zu tun?«
»Es gab keine Versicherung.« Der Commissario räusperte sich und schickte sich an, das Thema zu wechseln. »Tommaso, ich frage Sie jetzt zum letzten Mal.«
»Ja«, antwortete Tommaso schnell.
»Ja?«
»Ja, ich war es, der die chinesischen Behörden kontaktiert und sie gebeten hat, dieses Päckchen zu schicken. Die Aufnahme bringt uns unter Umständen Erkenntnisse von größter Bedeutung.«
Commissario Morante hob seine Stimme. »Sie haben ohne Erlaubnis die offiziellen Kanäle genutzt, um Warnungen nach Kiew, Kopenhagen und in eine ganze Reihe anderer Städte zu schicken.«
Tommaso hörte nicht mehr zu. Er wunderte sich nur. Wie hatte Morante all das herausfinden können? Irgendjemand musste geredet haben. Oder hatten sie ihn schon länger auf dem Kieker, als er gedacht hatte?
Als eine kleine Pause entstand, wollte sich Tommaso erneut rechtfertigen. »Wie ich schon zu sagen versucht habe: Die Morde folgen einem bestimmten Muster, und diese Serie ist noch nicht zu Ende.«
Schweigen. Jemand räusperte sich.
»Aber, Tommaso«, sagte der Commissario. »Sie haben unsere Botschaft in Delhi kontaktiert und einen Mann nach Mumbai schicken lassen, um dort nach Spuren zu suchen.«
»Nicht nach Spuren. Ein indischer Wirtschaftswissenschaftler ist ermordet worden.«
Der Commissario fuhr fort, als hätte Tommaso gar nichts gesagt. »Sie haben die chinesischen Behörden gebeten, uns Beweismaterial zu schicken, und Sie haben mit Interpol Kontakt aufgenommen.«
»Ja, weil es in China einen Fall gab, der exakt wie der in Mumbai war! Sehen Sie sich das Material an. Mehr will ich doch gar nicht von Ihnen. Hören Sie zu, was ich Ihnen zu sagen habe. Auch ich war anfänglich vollkommen ratlos. Es ist inzwischen Monate her, dass ich das erste Bild gesehen habe, das Interpol verschickt hat. Zunächst war das nur eine Leiche mit einer großen Tätowierung. Doch dann habe ich mich in das Material vertieft und Interpol gebeten, mir das Bildmaterial in der Originalauflösung zu schicken.«
»Sie haben Interpol
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