Die Auserwählten
großer Tag gewesen sein.«
»Aber meinen Sie, Dänemark hätte diesen Menschen Asyl gewährt?«
»Nicht, wenn Sie so fragen.«
»Zu guter Letzt hat Australien sie aufgenommen. Nach massivem Druck von uns.«
Das Mädchen, deren Beine Niels bereits gesehen hatte, kam mit einem Tablett mit Tee herein. Jetzt trug sie Jeans. Enge Jeans. Sie hatte einen hübschen, roten Lippenstift aufgelegt, der wunderbar zu ihrem glatten, asiatischen Haar passte. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein. Zwischen ihr und Amundsen knisterte es. Niels hatte das Gefühl, mitten in ihrem Schlafzimmer zu stehen.
»Das ist Pinoy. Sie ist unser Au-pair.«
»Guten Tag«, sagte sie. »Tee?«
Eine nette Stimme, entgegenkommend, aber doch selbstbewusst.
»Danke, ja.«
»Auch Pinoy ist von den Behörden verfolgt worden. Sie war schon zweimal im Gefängnis: Trotzdem mussten wir die Hoffnung aufgeben, sie als Flüchtling hierher holen zu können. Aber als Au-pair hat es dann geklappt. Und an der Regel rüttelt niemand. Nein, nein, die Oberklasse muss ja ihre billigen Arbeitskräfte kriegen.«
»Um wieder auf den Grund meines Kommens zurückzukommen«, begann Niels, aber Amundsen unterbrach ihn:
»Das ist mittlerweile beinahe die einzige Möglichkeit, Menschen in dieses Land zu holen. Wir versuchen, so vielen wie möglich zu helfen.«
Niels ließ ein paar Augenblicke verstreichen, um Amundsen dann über den Grund seines Besuches aufzuklären.
»Wie ich schon sagte: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Melden Sie sich aber, wenn Sie etwas Ungewöhnliches bemerken: Einbruch, Vandalismus, ein aufgebrochenes Schloss, seltsame Anrufe«, schloss er.
»So etwas ist mir nicht aufgefallen, nein. Das Ganze klingt ziemlich seltsam. Jemand, der die Guten umbringt?«
Amundsen reagierte auf das Geräusch eines Autos, das draußen hielt.
»Das sind die Kinder. Würden Sie einen Augenblick warten?«
Noch bevor Niels eine Antwort geben konnte, war Amundsen verschwunden. Durch das Fenster sah er, wie Amundsens hochschwangere Frau zwei kleine Kinder aus dem Auto zu heben versuchte. Niels warf einen Blick in den Flur und begegnete Amundsens Blick. Das asiatische Mädchen stand neben ihm; sie schien wütend zu sein. Er flüsterte ihr etwas zu, als die Tür aufging. Fröhliche Kinder, Lächeln und ehrliche Umarmungen. Niels nutzte die Wartezeit, um sich noch einmal die Fotos von Amundsen anzuschauen. Seine Siege. Auch ein gerahmter Artikel hing an der Wand: Amnesty rettet Jemeniten vor der Abschiebung .
»Sie müssen entschuldigen.« Amundsen stand in der Tür, ein Kind auf dem Arm. Er war ein verwirrter Mann, der seine Triebe mit all dem Guten, das sein Über-Ich vollbringen wollte, in Einklang zu bringen versuchte. Niels lächelte seinem Sohn zu.
»Gar kein Problem. Also: Rufen Sie mich an, wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt. Und es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge.«
Amundsen nahm Niels’ Visitenkarte.
»Ich mache mir keine Sorgen. Wollen Sie wissen, was ich glaube?«
»Ja?«
»Sie suchen am verkehrten Ort.«
»Wie meinen Sie das?«
»In meiner Branche finden Sie keine guten Menschen. Da gibt es viel zu viel Ego und Mediengeilheit.«
»Vielleicht geht es ja auch gar nicht darum, die guten Menschen zu finden. Ich muss nur die warnen, die irgend so ein Verrückter – so es ihn denn gibt – für die guten hält.«
Amundsen zögerte einen Augenblick. Er sah Niels ruhig in die Augen. »Sind Sie sich da sicher?«
***
Amundsen saß allein in seinem Arbeitszimmer. Der Kommissar war wieder gegangen. Ein seltsamer, unangenehmer Besuch. Irgendwie schien der Polizist sein Leben durchschaut und all die Lügen gesehen zu haben. Warum hatte er ihm nicht von den anonymen Anrufen berichtet? Den Anrufen mitten in der Nacht, ohne dass sich jemand meldete? Von dem Tag, an dem die Flasche an seiner Haustür zerschmettert wurde und eine tiefe Kerbe hinterlassen hatte? Das Krachen und Splittern ging Amundsen nicht aus dem Kopf. Zwischen den Scherben hatte er die Banderole gefunden, die am Flaschenhals klebte. Amarula Cream . Amundsen kannte die Marke gut, ein sahniger, afrikanischer Likör, ein süßes Zeug mit einem Elefanten auf dem Etikett. Einmal hatte er sich in Sierra Leone mit dem Zeug besoffen. Oder war das in Liberia gewesen? Konnte die Flasche an der Tür etwas mit einer dieser Sachen zu tun haben? Sierra Leone – der Vorhof der Hölle: grausame Verbrechen, Armut, Hunger, Krankheit, Korruption, verrückte Diktatoren und ein inexistentes
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