Die Auserwählten
Dreifache Mutter, eine Figur wie eine Tonne, aber ein Herz aus Gold, und noch wichtiger: Sie konnte Englisch. Englisch: Das sprachliche Safran im offiziellen Venedig – nur wenige beherrschten diese Sprache, und die wenigen, die sie sprachen, ließen sich gut dafür bezahlen.
Marinas Mascara war verlaufen. Er reichte ihr eine Serviette und wartete nicht länger auf ihre Antwort.
»Besorgen Sie mir einen Pappkarton. Ich nehme die Sachen mit nach Hause. Und dann muss ich Sie noch um einen letzten Gefallen bitten.«
Sie schüttelte bereits den Kopf. »Nein.«
»Doch, Marina. Es ist wichtig. Wichtiger als Sie und ich. Wenn Ihnen der Commissario das Päckchen aus China gibt und Sie bittet, es wieder zurückzuschicken, dann dürfen Sie das nicht tun.«
Sie sah ihn wieder gehorsam an. So gefiel sie ihm.
»Bitte schicken Sie es an den Besitzer dieser Handynummer.«
Er reichte ihr die Serviette mit der Telefonnummer, die er sich notiert hatte.
»Wer ist das?«
»Ein Polizist in Kopenhagen. Einer, der auch an dem Fall arbeitet. Vielleicht der einzige, jetzt, nachdem ich gefeuert worden bin.«
»Wie soll ich herausfinden, wer das ist?«
»Rufen Sie ihn an und fragen Sie ihn. Oder schicken Sie ihm eine SMS und bitten um Name und Adresse. Und dann schicken Sie das Päckchen. Mit der Botschaftspost. Damit es schnell geht.«
16.
16.
Dänisches Rotes Kreuz, Kopenhagen
» Gute Menschen , sagen Sie?«
Niels konnte nicht sagen, ob Thorvaldsen geehrt war oder Angst hatte.
»Die Ermordeten waren gute Menschen?«
»Ja, Sie wissen schon: Kinderärzte, Menschenrechtler, Entwicklungshelfer. Menschen aus Ihrer Branche.«
»Aus der Wohltätigkeitsindustrie. Dieses Wort können Sie ruhig nutzen.«
Niels sah sich in dem beeindruckenden Büro um. Dänische Designermöbel. Wegener. Børge Mogensen. Echte Teppiche. Panoramafenster. Eine große gerahmte Fotografie von Thorvaldsen zwischen Nelson Mandela und Bono, möglicherweise auf Robben Island aufgenommen.
»Wer steht sonst noch auf der Liste?«
»Entschuldigen Sie?«
»Auf Ihrer Liste. Wer soll sonst noch gewarnt werden?«
»Das ist vertraulich«, sagte Niels.
Thorvaldsen lehnte sich zurück und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Eine Liste der Polizei von den guten Menschen des Königreichs. Das kann man dann wohl als Ehre betrachten?«
Niels wusste nicht, was er antworten sollte. Thorvaldsen fuhr fort: »Warum glaubt man, dass die Morde miteinander zu tun haben? Können das keine Zufälle sein?«
»Doch, vielleicht. Aber mit der Aufklärung haben wir nichts zu tun.«
»Was dann?« Er mühte sich ein flüchtiges Lächeln ab, um nicht zu skeptisch zu wirken. Aber es war zu spät.
»Betrachten Sie es als eine Art Warnung. Eine kleine. Damit Sie sensibilisiert sind, sollte etwas Ungewöhnliches vorfallen. Ein Einbruch. Vandalismus. Wenn irgendetwas in der Art geschieht, rufen Sie mich an. Ich gehe davon aus, dass Sie in den letzten Jahren keine Drohungen erhalten haben?«
»Doch, ständig.« Thorvaldsen nickte. »Die Anwälte meiner Exfrau drohen mir Tag und Nacht.«
Es klopfte. Die Sekretärin kam herein, ein Tablett mit Kaffee und Tassen balancierend.
»Ich glaube, das wird nicht nötig sein.« Thorvaldsen sah sie durchdringend an. »Wir sind gleich fertig.«
Niels sah es ihr an. Sie hatte wieder einen Fehler begangen, wieder nicht das getan, was ihr Chef von ihr erwartete. Niels wäre ihr gern zu Hilfe gekommen.
»Oh, das ist nett, ich trinke gern eine Tasse, danke. Sagen wir als kleine Gegenleistung für all die Münzen, die ich in Ihre Sammelbüchsen gesteckt habe.«
Die Sekretärin schenkte ihm mit leicht zitternder Hand ein.
»Danke«, sagte Niels und sah sie an.
Thorvaldsen blieb bei der Sache. »Brauche ich Schutz?« Thorvaldsen fühlte sich plötzlich nicht mehr geehrt, er hatte sichtlich Angst.
»So weit sind wir noch lange nicht«, sagte Niels. »Wir befinden uns ganz unten auf der Gefahrenskala.«
Niels sah Thorvaldsen aufmunternd an, obwohl er ganz genau wusste, dass dieser Satz seinen Gesprächspartner alles andere als beruhigte. Dabei waren es nicht die Worte »ganz unten«, die das Unterbewusstsein aufsog, sondern das Wort »Gefahrenskala«. Hatte man Angst vor Krankheiten, half es auch nicht, etwas darüber zu lesen, wie selten diese Leiden waren; im Gegenteil. Jede weitere Information war nur neue Nahrung für die Angst. Niels verspürte plötzlich den unerklärlichen Drang, Thorvaldsen abzustrafen. Seinem Unterbewusstsein für die
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