Die Auserwählten
werden sollten. Die Medien hatten ihm den Titel Flüchtlingspastor gegeben. Durch seinen Einsatz war er im rechten politischen Lager und damit auch bei großen Teilen der Bevölkerung richtiggehend verhasst. Aber Severin Rosenberg ließ sich nicht einschüchtern und stand zu seiner Überzeugung: Nächstenliebe war Nächstenliebe. Sie machte keinen Unterschied zwischen blonden oder schwarzen Haaren, blauen oder braunen Augen. Man hatte ganz einfach die Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Niels hatte ihn bei diversen Debatten im Fernsehen gesehen, und immer hatte Rosenberg wie ein hoch begabter, wenn auch etwas wirklichkeitsferner Idealist gewirkt, der für seinen Glauben durchs Feuer gehen würde. Vor zweitausend Jahren hätte man ihn den Löwen im Kolosseum vorgeworfen, verfolgt wie die anderen Christen, die von dem Gedanken überzeugt waren, sowohl die Liebe als auch die irdischen Güter zu teilen. Rosenberg hatte etwas Naives. Und genau das gefiel Niels.
Allerdings hatte Niels nichts für Kirchen übrig. Er fand sie langweilig. Hatte man eine gesehen, kannte man alle. So war es ihm immer gegangen, dabei hegte Kathrine eine echte Faszination für große Gottesräume. Einmal während der Kulturnacht hatte sie ihn sogar mit in die Heiliggeistkirche geschleppt. Irgendein Chor hatte lateinische Hymnen gesungen, und ein Autor mit einem langen Bart hatte etwas über die Kirche erzählt. Niels erinnerte sich nur noch daran, dass die Kirche einmal als Hospitalkloster fungiert hatte. Im Mittelalter, als sich Kopenhagen als europäische Metropole zu manifestieren begonnen hatte, waren viele Reisende in die Stadt gekommen: Ritter, wohlhabende Menschen und Kaufleute. Der neue Ansturm hatte auch zahlreiche Prostituierte und uneheliche Kinder hervorgebracht. Viele der Neugeborenen waren nach der Geburt erschlagen worden. In dieser Zeit war die Heiliggeistkirche zu einer Art Hospitalkloster erweitert worden, damit die unfreiwilligen Mütter einen Ort hatten, an dem sie ihre Kinder abgeben konnten.
Niels parkte den Wagen auf dem Bürgersteig und betrachtete die Kirche. Noch heute, sechshundert Jahre später, lieferten die Kopenhagener hier ihre Kinder ab, denn wo früher das Kloster war, gab es heute eine Krabbelstube.
Einen Augenblick lang blieb Niels im Auto sitzen und sah zum Himmel, an dem die Sonne die dünne, grauweiße Wolkenschicht zu durchbrechen versuchte. Er betrachtete die Menschen, die draußen auf der Straße vorbeiliefen. Eine junge Mutter mit einem Buggy. Ein älteres Ehepaar, das wie frisch verliebt Hand in Hand ging. Es war ein schöner Wintertag in Kopenhagen. Hopenhagen, wie die Stadt zu Ehren der Klimakonferenz kurzerhand getauft worden war.
Niels überquerte den Platz und bemerkte im gleichen Moment den Streifenwagen, der auf dem Bürgersteig parkte. Schon von weitem hörte er, dass ein Mann die Beamten beschimpfte. Der lallende, unverkennbare Klang einer Stimme, deren Sprachzentrum durch viele Jahre massiven Drogenkonsums unwiderruflich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Beamten hielten den Junkie an beiden Armen fest.
»Ich war das nicht, ihr Arschlöcher!«
Niels kannte ihn gut. Vor Jahren hatte er ihn selbst einmal verhaftet. Er war einer der Aussätzigen Kopenhagens. Ein Unkraut, das alle in einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Abscheu dazu brachte, den Blick abzuwenden. Der Junkie riss sich los und begann auf dünnen Beinen taumelnd eine komische Flucht. Aber heute war wirklich nicht sein Tag, denn er lief Niels direkt in die Arme.
»Hallo. Immer mit der Ruhe.«
»Mann eh, lass mich los!«
Niels legte seine Hände fest um die Arme des Mannes. Sie bestanden nur aus Haut und Knochen und fühlten sich so an, als könnten sie jederzeit unter seinen Fingern zerbrechen.
Dem Mann blieb nicht mehr viel Zeit, sein Atem stank bereits nach Tod. Niels musste sich abwenden, während der Mann seine letzten Kräfte dazu nutzte, seine ganze Umgebung zu beschimpfen.
»Seien Sie vorsichtig mit ihm«, sagte Niels, als er ihn den beiden jungen Beamten in Obhut gab und ihnen dabei seinen Polizeiausweis zeigte. Einer der beiden wollte den Junkie zwingen, sich auf dem kalten Boden auf den Bauch zu legen, um ihm Handschellen zu verpassen.
»Ist das wirklich nötig? Ist das Ihr Ernst?«, fragte Niels. Der Junkie sah Niels an, ohne ihn wiederzuerkennen. »Was hat er denn gemacht?«
»Er wollte in den Keller unter der Kirche einsteigen.«
»Das war ich nicht!«, schrie der Mann. »Jetzt hört mir doch mal
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