Die Auserwählten
nach einer ganzen Weile wurde ihm bewusst, was das bedeutete. Es war doch noch nicht alles verloren. Den Sprengstoff hatte er zwar nicht mehr, die Bilder aber waren noch da. Sie wussten nicht, was er vorhatte; seinen Plan kannten sie nicht.
24.
24.
Carlsberg-Silo, Kopenhagen Wenn Niels nicht schlafen konnte, setzte er sich gewöhnlich hin und las. Mit Vorliebe ein langweiliges Buch oder die Zeitung vom Vortag. Auch Wein half, während er von Branntwein Herzklopfen bekam. Der Cognac, den er von Anni zu seinem vierzigsten Geburtstag bekommen hatte, war noch fast voll.
In dieser Nacht blieb Niels einfach liegen. Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen, so dass er im Dunkeln an die Decke starrte. Der Koffer stand gepackt da. Pass und Flugticket lagen auf dem Tisch. Er hatte ein Hemd gebügelt und es auf einen Bügel gehängt. Alles war bereit. Er brauchte jetzt nur noch die glatte Betondecke anzustarren und darauf zu warten, dass es sechs Uhr wurde und er aufbrechen konnte. Er schloss die Augen und versuchte, sich Kathrines Gesicht in Erinnerung zu rufen. Ihre Augen. Die Begeisterung, wenn sie über ihre Arbeit sprach. Die etwas kindlichen Grübchen, die sie so gern zu verstecken suchte, weshalb sie sich beim Lächeln oft die Hand vor den Mund hielt. Ihr stürmisches Temperament. Den Bogen ihrer Wangenknochen. Die feine Nase. Aber es wollte ihm nicht gelingen, die Bilder zu sammeln. Immer sah er nur Einzelheiten, die sich gegenseitig im Weg standen, so dass kein klares Bild entstehen konnte.
Als das Telefon klingelte, war das wie eine Befreiung für ihn.
»Hallo, Schatz, ich habe gerade im Bett gelegen und an dich gedacht.«
»Hast du deine Pillen genommen?«
Kathrine klang hektisch. Gespannt, gestresst, nervös. Aber auch voller Erwartung.
»Ein paar, die anderen nehme ich gleich.«
»Mach den Computer mal an«, sagte sie.
»Willst du überprüfen, ob ich sie auch wirklich nehme?«
»Ja.«
»Na dann.«
Niels schaltete das Gerät ein. Ein Augenblick verging, in dem keiner ein Wort sagte.
»Hallo«, sagte er, als er sie auf dem Bildschirm sah. Sie saß am üblichen Ort. Niels hatte manchmal das Gefühl, dass er diesen Raum – runde achttausend Kilometer entfernt – besser kannte als irgendeinen Raum in ihrer Wohnung.
Niels schluckte zwei Pillen. Hoffentlich verabreichte er sich damit keine Überdosis, denn den Beipackzettel hatte er so genau nicht gelesen.
»So, zufrieden?« Er klang ein bisschen gereizt.
»Du glaubst wohl selbst nicht daran.« Die Worte schossen wie Projektile aus ihrem Mund.
»Was?«
»Fuck, Niels! Ich sehe dir das doch an! Du glaubst nicht daran. So schwer kann das doch nicht sein? Denk doch nur mal an all die Menschen mit ihren komischen Phobien. Man nimmt ein paar Pillen, und schon ist man wieder obenauf.«
»Genau das tue ich doch. Jedenfalls versuche ich es.«
»Wirklich, Niels, mit all deiner Kraft?«
Stille. Er zögerte. Lag da nicht eine latente Drohung in ihrer Stimme? Etwas wie das ist deine letzte Chance ? Er kriegte den Gedanken nicht aus dem Kopf. Es gab eine ganze Reihe von Gefühlen, die er nicht nachvollziehen konnte. Paranoia gehörte nicht dazu.
»Das war mit das Erste, was ich dir gesagt habe. Ich habe Flugangst.«
»Vor hundert Jahren!«
»Weißt du noch, was du gesagt hast? Das ist doch unwichtig, du bist meine ganze Welt .«
»Vor tausend Jahren!«
»Das waren deine Worte.«
»Ja, Niels. Aber wir haben keine Kinder und waren nie weiter weg als Berlin.«
Niels ließ den Satz im Raum stehen. Streiten war ihm noch nie leichtgefallen. Besonders nicht mit Kathrine.
»Sieh mal her, Niels.« Sie zog ihr Nachthemd etwas nach unten und ließ ihn ihre Brüste erahnen. »Das ist auch für mich nicht einfach. Ich brauche Nähe. Biologie, weißt du. Ich habe das Gefühl zu verwelken.«
»Kathrine.« Niels wusste nicht, was er sagen sollte. Manchmal reichte schon der richtige Tonfall. Dieses Mal aber nicht.
»Du bist morgen hier, Niels. Du …« Ihre Stimme versagte. »Wenn du morgen nicht hier bist …«
»Was dann?«
»Dann kann ich dir nichts versprechen.«
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du ganz genau.«
»Nein! Wovon redest du?«
»Du hast mich ganz genau verstanden: Du bist morgen hier, andernfalls kann ich dir nichts versprechen! Gute Nacht, Niels.«
Sie starrten sich an. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten und kämpfte darum, ihm das nicht zu zeigen.
Dann beendete sie die Verbindung.
»Scheiße!« Niels hatte Lust, sein Weinglas in
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