Die Auserwählten
Gesicht und versuchte, regelmäßig zu atmen. Doch dann wurde er neuerlich von einer Stimme gestört. Dieses Mal über den Lautsprecher:
» Letzter Aufruf für Passagier Niels Bentzon für den SAS-Flug nach Paris um 8.45 Uhr. Boarding von Gate 11. «
Dass die Maschine in Paris zwischenlanden sollte, machte es nicht leichter, da er diese Hölle so gleich zweimal überstehen musste.
Er schloss die Augen. Versuchte die Taktik zu ändern. Bis jetzt hatte er so getan, als wäre alles ganz normal. Er hatte zu vergessen versucht, dass er in einem Flughafen war. Ohne Erfolg. Jetzt probierte er das Gegenteil. Er konzentrierte sich. Sei vernünftig. Kapsel die Angst ein und lass sie mit der Vernunft und der Statistik kämpfen: Millionen von Menschen befinden sich beständig irgendwo über den Wolken. Und er sollte einfach nur das Gleiche tun wie sie: sich in ein Flugzeug setzen, eine Tasse Kaffee trinken, einen Film ansehen und vielleicht etwas schlafen. Und die Tatsache akzeptieren – ja, vielleicht sogar genießen –, dass wir ohnehin alle irgendwann sterben müssen. Aber es half nichts. Es war ja auch nicht das Flugzeug, das er fürchtete, sondern die eigentliche Reise, der Umstand, dass er weggehen sollte.
Er wischte sich das Gesicht mit einem Papiertuch ab. Atmete tief durch und versuchte sich aufzuraffen. Dann verließ er die Toilette und ging zum Gate. Auf dem Weg durch die jetzt beinahe leere Abflughalle hatte er ein Bild im Kopf: ein zum Tode Verurteilter auf seinen letzten Metern zum Galgen. Es würde besser zu ihm passen, hingerichtet zu werden, als sich in ein Flugzeug zu setzen, dachte er.
»Danke. Guten Flug.«
Die Stewardess lächelte ihn mitfühlend und professionell zugleich an und ließ ihn ins Flugzeug steigen. Ihm wurde kaum Beachtung geschenkt, keine verurteilenden Blicke, weil er zu spät kam. Jeder hatte mit sich zu tun. Niels fand seinen Platz und setzte sich. Er starrte reglos auf den Sitz vor sich. Es ging gut. Er hatte alles unter Kontrolle. Die Atmung ging einigermaßen normal. Vielleicht wirkten die Pillen tatsächlich.
Dann fiel sein Blick auf seine Hände im Schoß.
Es sah aus, als bekämen sie elektrische Stöße, die sich ausbreiteten. Er spürte es. Die Spasmen kletterten langsam in seinen Armen hoch bis zu den Schultern, dann weiter in seine Brust und seinen Bauch. Die Geräusche um ihn herum verschwanden. Er sah sich verwirrt um. Ein kleines Mädchen – vielleicht fünf Jahre alt – drehte sich um und starrte ihn mit kindlicher Faszination an. Ihr Mund bewegte sich. Und plötzlich drangen auch ihre Worte zu ihm durch: »Mama, was macht der Mann da?«
Dann registrierte er eine junge Mutter, die ihre Tochter aufforderte, ihn nicht so anzuschauen und so zu tun, als wäre nichts.
Niels stand auf. Er musste raus. Jetzt.
Er musste sich übergeben. Der Schweiß brach ihm aus. Er taumelte wie ein Betrunkener durch den Mittelgang. Aber er wollte sich nicht anmerken lassen, wie es ihm ging, wollte in dieser unmöglichen Situation seine Würde bewahren.
»Sie können das Flugzeug jetzt nicht verlassen.« Die Stewardess, die ihn kurz zuvor begrüßt hatte, sah ihn an. Ihr Lächeln wirkte jetzt ein wenig angestrengt.
Niels ging weiter. Das Flugzeug vibrierte. Die Triebwerke dröhnten.
»Sie können nicht …«
Sie sah sich um. Ein Steward eilte herbei.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber Sie können jetzt nicht raus.«
»Ich bin Polizist.«
Niels ging weiter. Die Tür war jetzt nur wenige Meter vor ihm.
»Hören Sie? Ich muss Sie bitten, zu Ihrem Platz zurückzugehen.«
Er stellte sich Niels in den Weg. Niels schubste ihn und umfasste den Handgriff der Tür.
»Hören Sie!«, wiederholte der Steward geduldig.
Niels holte seine Dienstmarke aus der Tasche.
»Polizei Kopenhagen. Ich muss raus.« Seine Stimme bebte.
Jemand flüsterte der Stewardess zu: »Holen Sie den Kapitän?«
»Ich muss jetzt raus!«, rief Niels.
Alle Passagiere starrten Niels an. In dem Blick des Stewards lag jetzt sogar Mitleid.
Dann nickte er.
***
Ein Rad des Gepäckwagens saß schief, so dass Niels das Gefährt nur mit Mühe auf Kurs halten konnte. Er fluchte innerlich. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, seinen Koffer aus dem Flugzeug zu bekommen, und als er ihm schließlich gebracht worden war, hatten die Mienen der Gepäckleute keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihnen jede Menge zusätzliche Arbeit aufgehalst hatte.
Niels gab es auf, ließ den Wagen stehen und trug stattdessen seinen Koffer. Dann
Weitere Kostenlose Bücher