Die Auserwählten
den Bildschirm zu schleudern, beherrschte sich aber. Wie immer.
Dann übermannte ihn die Einsamkeit. Plötzlich schien alle Energie aus dem Raum entwichen zu sein oder aus ihm.
Wieder klingelte das Telefon. Er ließ es ein paarmal klingeln, versuchte, sich zu sammeln, und atmete tief ein – er musste jetzt positiv klingen.
»Hallo, Schatz!«
»Dass mich jemand so genannt hat, ist lange her.«
Niels brauchte ein paar Sekunden, um die Stimme einer Person zuzuordnen. Es war Hannah Lund, die Astrophysikerin.
»Entschuldigen Sie, ich dachte, es wäre meine Frau.«
»Ich wollte eigentlich nicht mehr so spät anrufen. Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir. Die stammt noch aus meiner Zeit in der Forschung. Da wird die Nacht manchmal zum Tag. Kennen Sie das?«
»Möglich.« Niels hörte selbst, wie müde er plötzlich klang.
»Ihre Morde halten mich wach.«
»Meine Morde?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Können wir uns treffen?«
Niels sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. In weniger als vier Stunden klingelte der Wecker. »Ich bin auf dem Weg in die Ferien. Südafrika. Muss in der Früh meinen Flieger kriegen.«
»Wenn es ein System gibt«, sagte Hannah. »Also, wenn es Zahlen und Distanzen sind, denen ein bestimmtes Muster zugrundeliegt …«
Niels versuchte halbherzig, sie zu unterbrechen. »Wir haben eigentlich nichts mit der Aufklärung zu tun.«
»Haben Sie mal darüber nachgedacht?«
»Worüber nachgedacht?«
»Über das System. Vielleicht können wir es berechnen.«
Niels trat ans Fenster. Dunkle Straßen. »Sie meinen, um den nächsten Mord zu verhindern?«
»Ich brauche dafür natürlich sämtliche Informationen und Daten. Und es muss doch eine Akte geben.«
Niels überlegte. Er musste an Kathrine denken.
»Wie gesagt …«
»Ja, ja, Sie haben eigentlich nichts mit der Aufklärung zu tun. Das verstehe ich. Entschuldigen Sie die Störung, Niels Bentzon.«
»Ist schon in Ordnung. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Schatz.«
Sie legte auf.
25.
25.
Flughafen Kastrup, Kopenhagen, Donnerstag, 17. Dezember
Einer der ältesten zivilen Flughäfen der Welt, angelegt auf einer Salzwiese vor Kopenhagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieser Flughafen der am besten erhaltene in ganz Europa. Während die anderen Flughäfen zerbombt worden waren, hatte jemand seine Hand schützend über Kastrup gehalten. Höhere Mächte? Zufall? Die internationale Politik?
»Sagten Sie Auslandsterminal?«
»Ja, ja, Terminal drei, ich bin spät dran.«
Die klare Wintersonne stand so niedrig am Himmel, dass sie den Autofahrern direkt in die Augen schien. Niels setzte die Sonnenbrille auf, die er eigentlich für Afrika in seine Jacke gesteckt hatte, und blickte an den wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Ein Airbus startete.
Niels versuchte, sein wachsendes Unwohlsein zu unterdrücken. Jedes Jahr starteten und landeten mehr als zweihundertsechzigtausend Flugzeuge allein in Kastrup. Millionen von Menschen kamen an oder flogen von hier ab. Niels hatte darüber gelesen. Er kannte die Statistik und wusste, dass er erleichtert aufatmen sollte, wenn er in wenigen Augenblicken aus dem Taxi stieg, denn dann war der gefährlichste Teil der Reise überstanden. Sein Wissen hatte aber keinen therapeutischen Effekt. Im Gegenteil.
»Sie können froh sein, wenn Sie keine Verspätung haben.« Der Fahrer hielt den Wagen an. »Gestern wollte ein Vetter von mir nach Ankara. Der wartet jetzt noch da drinnen.«
Niels nickte nur und starrte auf das Gebäude aus Glas und Aluminium, das vor ihm aufragte und wie eine Tragfläche geformt war. Wegen der Klimakonferenz gab es massive Verspätungen. In den elf Tagen, die die Konferenz dauerte, war Kastrup der Nabel der Welt, doch so weit Niels das im Internet hatte prüfen können, war sein Flug von den Verspätungen nicht betroffen. Die meisten Staatsoberhäupter waren inzwischen angekommen. Einige sicher bereits wieder abgereist.
***
Schon in der Abflughalle brach Niels der Schweiß aus. Er ging auf die Toilette, schluckte ein paar Pillen und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann musterte er sich im Spiegel. Er war krankhaft blass. Große Pupillen in einem verzerrten Gesicht.
»Are you okay, Mister?«
Niels betrachtete den Mann im Spiegel. Ein kleiner, dicklicher Südeuropäer mit freundlichem Gesicht.
»I’m fine, thank you.«
Der Mann blieb stehen, nur einen Augenblick. Niels wollte ihn schon fortschicken, dann ging er endlich.
Noch einmal spritzte er sich kaltes Wasser ins
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