Die Auserwählten
das für dich«, rief der Mann. »Wo stehen deine Platten?«
»Unter der Treppe.«
Tommaso drückte die Zigarette in einer Topfpflanze aus und trat in seine Wohnung. Nur eine einzige Lampe brannte. Er wollte ins Bett gehen. Sein Kopf brauchte Ruhe. Auf dem Weg durch das Wohnzimmer hielt er dann doch inne und sah an die Wand, an der er bereits die ersten Dokumente des Falls aufgehängt hatte. Die Fotografien der Opfer. Männer und Frauen. Ihre Blicke. Ihre Gesichter. Die Weltkarte mit den Pfeilen, die die Tatorte zu einem sinnreichen Muster verwoben. Die Daten und wichtigen Details, die mit diesen Fällen zu tun hatten. Tommaso konnte seinen Blick nicht abwenden, er war fasziniert und gebannt, vor allem aber entsetzt.
Die letzten Fotografien, die er aus Indien erhalten und ausgedruckt hatte, zeigten den Rücken des toten Wirtschaftswissenschaftlers Raj Bairoliya. Mutters Ahnengalerie hatte anderen Toten Platz machen müssen. Wichtigeren Toten. Toten, die eine Bedeutung hatten – dessen war Tommaso sicher. Das alles konnte kein Zufall sein. Es gab eine Verbindung zwischen den Opfern – er wusste nur nicht, welche. An andere abtreten konnte er diesen Fall nicht. Niemand verstand ihn. Das hatte er erst wieder vor ein paar Monaten erfahren müssen, als er bei Interpol angerufen hatte. Er war hundertmal weiterverbunden worden, bis er schließlich eine Frau am Draht hatte, die von nichts eine Ahnung hatte. Sie hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört und schließlich gebeten, etwas zu schicken. Drei Wochen später hatte sie ihm schriftlich mitgeteilt, der Fall habe eine Nummer bekommen. Man wolle sich darum kümmern, wenn man so weit sei. Er müsse aber sicher mit anderthalb Jahren rechnen.
Achtzehn Monate. So lange konnte das nicht warten. Neben den toten Inder hängte Tommaso die Fotografie eines toten Juristen aus den USA. Russel Young. Nummer dreiunddreißig. Raj Bairoliya, Nummer vierunddreißig.
22.
22.
Polizeipräsidium, Kopenhagen
Nacht. Die beste Zeit im Präsidium. Nur das Putzpersonal lief leise herum, leerte die Mülleimer und wischte auf den Fensterbrettern Staub. Die Tische blieben unangetastet – denn die bogen sich immer unter der Last der Papiere.
Niels druckte seinen Bericht aus. Er hatte geschrieben, wen er kontaktiert hatte und dass alle gewarnt und informiert worden waren. Rechtzeitige Vorsorge . Die zwei wichtigsten Worte der modernen Polizeiführung.
Dem Drucker fehlte Papier. Er nahm einen bescheidenen Stapel Blätter, brauchte aber geschlagene zwanzig Minuten, um herauszufinden, in welche Lade er das Papier legen musste. Dann versuchte er, sich auf Kathrine zu konzentrieren, doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu Hannah.
Als Niels in Sommersteds Vorzimmer kam, das ebenso ordentlich und sauber wie Sommersted selbst war, entschloss er sich, den Bericht auf seinen Schreibtisch zu legen und nicht auf den seiner Sekretärin, wie man es sonst tat. Er wollte, dass Sommersted den Bericht sofort sah und keinen Zweifel daran hatte, dass Niels den Vertrauensbeweis bestanden hatte.
Niels ging aber nicht gleich wieder, sondern blieb vor dem Schreibtisch stehen. Sein Blick fiel auf ein Bild von Sommersted und seiner Frau. Irgendetwas war mit den beiden; sie gaben sich derart große Mühe, nach außen hin richtig zu wirken, dass man sich fragte, wie es hinter den Kulissen aussah.
Nur eine andere Mappe lag auf dem Tisch. Vertraulich. Priorität 1 stand auf dem Umschlag. Am liebsten hätte Niels seinen Bericht auf diese Mappe gelegt, damit Sommersted ihn wirklich las, aber wie wichtig konnte dieser andere Bericht sein? Er öffnete ihn. Nicht um ihn zu lesen, sondern um sicherzugehen, dass er es sich erlauben konnte, seinen Bericht darauf zu legen. Terrorwarnung. Mutmaßlicher Terrorist gestern in Stockholm gelandet. Jemenit. Zwischenlandung in Mumbai, Verbindungen zu den Terroranschlägen im letzten Jahr. Möglicherweise auf dem Weg nach Dänemark . Niels blätterte weiter. Es gab ein schlechtes Foto von dem Terroristen, aufgenommen mit der Überwachungskamera vor der amerikanischen Botschaft in Kairo. Die Muslimbruderschaft .
Niels legte seinen Bericht neben den anderen. Nicht darauf. Machte das Licht aus und murmelte: »Tschüss. Schöne Ferien.«
23.
23.
Im südlichen Schweden
Verwirrende Sinneseindrücke. Erst die Stewardess. Jetzt der Schnee draußen vor dem Zugfenster. Es war viele Jahre her, dass Abdul Hadi zuletzt Schnee gesehen hatte. Damals hatten sein Bruder und er zum ersten und
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