Die Auserwählten
Forschungspreis in den Händen. Mit breitem Lächeln. Sie war jung und hübsch und strahlte vor Lebendigkeit und Ambitionen. Die Welt lag ihr zu Füßen, und sie wusste und genoss es. Ein paar Fotos von Hannah und Gustav. Ein bemerkenswert hübscher Mann um die fünfzig. Schwarze, nach hinten gekämmte Haare. Dunkle Augen. Groß gewachsen mit breiten Schultern. Ohne jeden Zweifel ein Mann, dem es an weiblichen Bewunderern nicht mangelte; ein herausfordernder Blick, ein verlockendes Angebot. Dann ein Bild, auf dem Hannah schwanger ist. Sie steht auf der Brooklyn Bridge und hat den Arm um Gustav gelegt. Niels sieht sich das Bild genauer an. Vielleicht ging jetzt der Polizist mit ihm durch – die Rolle hing ihm manchmal zum Hals heraus –, aber er konnte nicht übersehen, dass Hannah in die Kamera blickte, während Gustav sich leicht abgewendet hatte. Wem sah er nach? Einer hübschen Frau, die zufällig auf der Brücke an ihnen vorbeigekommen war?
Auf den letzten Fotos war Hannah mit dem Jungen allein. Wo war Gustav? Auf Konferenzen? Pflegte er seine Karriere als international berühmter Wissenschaftler, während Frau und Sohn zu Hause saßen? Das letzte Foto stammte vom Geburtstag. Auf dem Kuchen waren zehn Kerzen, und in der Mitte stand mit Sahne geschrieben ›Johannes‹. Hannah und ein paar andere Erwachsene saßen um Johannes herum, der die Kerzen ausblasen sollte. Niels betrachtete das Foto. Es war eines dieser Bilder, die in erster Linie die Person zeigen, die nicht da ist: Gustav.
»Er hat über einen alten Mythos gesprochen.« Hannah stand plötzlich hinter ihm und reichte ihm das Handy. Hatte sie bemerkt, dass er sich ihre Fotos angesehen hatte?
Niels drehte sich um. »Einen Mythos? Welchen?«
»Etwas mit sechsunddreißig Gerechten. Aus der Bibel, glaube ich. Ich habe nicht alles verstanden. Aber ist das nicht faszinierend: Die meisten Morde sind mit einer Distanz von circa dreitausend Kilometern erfolgt. Deshalb hat er mit Ihnen Kontakt aufgenommen. Anscheinend sind es dreitausend Kilometer zwischen dem letzten Tatort und …«
»Kopenhagen.« Niels unterbrach sie.
Sie wechselten einen Blick.
***
Hannah sah dem Auto nach, als Niels aus der Einfahrt fuhr. Sie hatte noch immer seine Visitenkarte in der Hand. Einen Sekundenbruchteil wurde sie von den Scheinwerfern geblendet, dann las sie das Kennzeichen: II 12 041. Sie nahm einen Kugelschreiber aus der Schublade. Der Wagen entfernte sich, aber sie würde die Nummer noch lesen können. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt. Das Fernglas stand auf dem Fensterbrett. Sie nahm es, rannte zurück in die Küche, legte es vor die Augen und stellte scharf. Doch. Sie hatte richtig gesehen. II 12 041. Sie schrieb die Nummer auf die Rückseite von Niels’ Visitenkarte und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
21.
21.
Cannaregio, Ghetto, Venedig
»Bentzon …«
Tommaso die Barbara legte das Telefon auf den Rand des Balkons und blickte über die dunkle Stadt. Er versuchte, den ganzen Namen auszusprechen. »Niels Bentzon. Wer sind Sie?«
Während der Rest von Venedig starb, wenn die Nacht hereinbrach und die Restaurantangestellten zum letzten Zug zurück zum Festland hasteten, pulsierte in Ghetto das Leben weiter. Die meisten Bürger der Stadt lebten in den Straßen rund um das alte jüdische Viertel. Sirenen heulten. In einer halben Stunde würde das Wasser steigen. Tommaso war müde. Brachte es nicht über sich, nach unten zu gehen und die Holzplatten vor die Türen zu legen. Die Nachbarn waren unten auf dem Bürgersteig bereits aktiv und platzierten genau zugesägte Platten in den Schienen mit den Gummileisten, die auf beiden Seiten der Tür befestigt worden waren.
»Tommaso!«
Der Mieter unter ihm rief zu ihm hoch. Er hatte einen Friseursalon. Tommaso winkte.
»Hast du die Sirene nicht gehört?«
»Doch, doch, ich komme schon.«
Der Mann sah Tommaso so besorgt an, dass er fürchtete, die Information über seine Suspendierung könnte bereits die Runde gemacht haben. Bestimmt war es so. Wobei ihm das ja eigentlich auch egal sein konnte. In Venedig wusste jeder über jeden Bescheid, in dieser Hinsicht war die Stadt wie ein kleines Dorf. Auch dass seine Mutter im Sterben lag, war allseits bekannt. Andererseits war es nicht verwunderlich, dass die Nachbarn das wussten, schließlich gehörte seiner Mutter das ganze Haus. Und jetzt dann bald ihm. Sie machten sich nur Sorgen, dass er es an einen reichen Amerikaner verkaufen könnte.
»Ich mache
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