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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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letzten Mal in ihrem Leben im Libanon auf Skiern gestanden. Sie hatten die Hälfte ihres monatlichen Budgets darauf verwendet, mit dem Zug ins Gebirge zu fahren und sich Skier zu leihen. Schon auf der ersten Abfahrt waren sie gestürzt. Seinen großen Bruder hatte es am schlimmsten erwischt. Er hatte seinen Arm nicht bewegen können, so dass Abdul Hadi ihm mehrere Tage lang sogar bei den intimsten Dingen helfen musste. Die Hose ausziehen. Und so weiter. Sie hatten nicht das Geld gehabt, zu einem Arzt zu gehen, und schämten sich. Schließlich lebten sie auf Kosten ihrer Familie im Jemen und sollten eine Ausbildung machen, um die Versorgerpflichten übernehmen zu können.
    Auf einmal spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
    Der Anblick des uniformierten Mannes ließ Abdul Hadi nervös werden. Fast panisch. Er sah zu den anderen Passagieren hinüber, doch erst als die Frau neben ihm ihr Ticket herausholte, wurde auch ihm bewusst, was der Mann wollte.
    »Sorry«, murmelte er.
    Der Schaffner lochte die Fahrkarte und ging weiter, sah sich aber noch zweimal um. Er hatte bemerkt, wie nervös Abdul Hadi war. Hadi stand auf, nahm seine Tasche und ging zur Toilette. Diese simple Kontrolle durfte nicht alles kaputt machen.
    Er drückte die Klinke der Toilettentür nach unten. Besetzt. Aber vielleicht war es ohnehin besser, auf seinem Platz zu bleiben. Wechselte er jetzt das Abteil, machte er sich vielleicht noch verdächtiger. Der Schaffner kam zurück und ging an Abdul Hadi vorbei, ohne ihn anzusehen. Erst als er das Ende des Wagens erreicht hatte und mit einem Kollegen sprach, warf er einen Blick zurück. Auch der Kollege sah daraufhin zu Abdul Hadi herüber. Er war entdeckt worden. Daran konnte es kaum einen Zweifel geben. Aber sie wussten nicht, was er vorhatte. Bloß dass er sich verdächtig verhielt und nervös war. Verdammt! Alles nur, weil ihn die Hand des Schaffners so überrascht hatte. Und natürlich, weil er Araber war. Vermutlich rief der Schaffner jetzt die Polizei an; wäre er an seiner Stelle, würde er das Gleiche tun.
    Der Zug wurde langsamer, und eine Stimme teilte ihnen mit, dass sie in Kürze Linkøping erreichten, den einzigen Halt vor Malmö. Das gelbliche Licht im Wagen erinnerte ihn an den Basar in Damaskus. Aber das anstrengende, harte Licht war auch das Einzige, was ihn an die alten Handelsstraßen des Nahen Ostens denken ließ. Hier waren die Bahnhöfe fast menschenleer, alles war sauber und kalt. Außerdem gab es Unmengen von Schildern. Er versuchte, einen Blick zu den Schaffnern zu werfen. Er musste jetzt einen Entschluss fassen, schnell. Ein paar Passagiere stiegen ein. Wenn er im Zug sitzen blieb und die Polizei kam, hatte er keine Chance.
    Er musste raus.
    Er sprang aus dem Zug und presste die Tasche an sich. Verdammt! Der Rucksack mit den Bildern von der Kirche. Und der Sprengstoff. Beides lag noch unter dem Sitz im Wagen. Als er wieder einsteigen wollte, erblickte er den Schaffner, der telefonierend nach ihm Ausschau zu halten schien. Eine Sekunde lang standen sie sich gegenüber und sahen sich an, keine zwei Meter voneinander entfernt. Diese gedankenlosen Handlanger des Gesetzes. Uniform. Mütze. Der wusste doch nicht einmal, für was für eine Gesellschaft er sich da aufopferte. Eine Gesellschaft, die zu hundert Prozent auf Rassenvorurteilen und Hass basierte und darauf, andere auszuplündern.
    Abdul Hadi begann zu laufen. Der Schaffner rief etwas. Abdul Hadi rannte, so schnell er konnte. Er stürmte die Treppe hinunter, die unter den Gleisen hindurchführte, und kam vor dem Gebäude wieder ins Freie. Der Zug war noch nicht wieder abgefahren. Er musste zurück. Die Bilder von der Kirche. Der Sprengstoff. Der Plan würde auffliegen.
    Er kehrte um. Vielleicht schaffte er es, in den letzten Wagen einzusteigen, sich seinen Rucksack zu schnappen, die Notbremse zu ziehen und wieder zu verschwinden.
    Doch zu spät. Als Abdul Hadi den Bahnsteig erreichte, fuhr der Zug los.
    ***
    Qualvolle Minuten. Endlose Sekunden. Scham. Alles war zerstört. Er hatte versagt. Abdul Hadi öffnete seine Tasche und suchte nach der Mappe, in der die Telefonnummer seines Vetters lag. Er war quer durch die Stadt bis ans andere Ende gehastet, weil er damit rechnete, dass nach ihm gesucht wurde. In der Tasche herrschte das reinste Chaos. Er zog ein paar Papiere heraus und hatte plötzlich die Bilder in der Hand. Die Bilder von der Kirche. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie in die Tasche gesteckt zu haben, und erst

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