Die Auserwählten
setzte er sich an einen Tisch und trank ein Bier.
Der Stuhl war unbequem und seine Übelkeit noch nicht verflogen. Er hatte auch keine Lust auf Alkohol und wollte nur, dass es ihm besser ging. Wäre er doch tot! Warum war er nicht einfach im Flugzeug geblieben? Er wollte Kathrine anrufen, aber er schämte sich zu sehr.
Ein anderer Stuhl, dieses Mal etwas bequemer. Für längere Wartezeiten gedacht. Niels konnte sich nicht daran erinnern, den Platz gewechselt zu haben. Er hatte sein Handy in der Hand. Kathrine. »Geliebte Kathrine. Ich gebe nicht auf.«
Sie musste sich mit einer SMS begnügen.
Durch die riesigen Fenster sah er eine Boeing 737 unbeschwert vom Boden abheben.
Eine halbe Stunde verging. Vielleicht mehr. Flugzeuge landeten und hoben federleicht ab. Reisende kamen an. Geschäftsleute, Touristen, NGO-Mitarbeiter, Behördenvertreter, Klimabeauftragte, Politiker, Journalisten und Repräsentanten verschiedener Umweltorganisationen. Niels musterte sie. Einige wirkten schon jetzt müde und niedergeschlagen, andere waren voller Hoffnung und Erwartung. Alle waren in Bewegung. Sie reisten von einem Ort zum anderen, während er nur dasaß.
Niels stand auf und ging zur Warteschlange am Alitalia-Schalter. Er dachte nicht nach; sein Hirn hatte sich ausgeschaltet. Alles war gelöscht. Alle Gedanken über die Reise. All die genau durchdachten Vorbereitungen. Die Statistiken. Wofür konnte er sie jetzt noch brauchen? Welchen Nutzen hatten sie?
»Excuse me, are you from Italy?«
Niels war mindestens ebenso überrascht wie der junge Mann, den er angesprochen hatte.
»Yes.«
»Can you make a phone-call for me? It’s urgent.«
Niels wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern rief Tommasos Nummer in seinem Mobiltelefon auf und reichte es dem Mann.
»Ask for Tommaso di Barbara. Tell him to fax everything he has on the case to Niels Bentzon. This number.« Niels zeigte auf eine Nummer auf seiner Visitenkarte.
»But …«
»Everything!«
26.
26.
Polizeipräsidium, Kopenhagen
»Niels? Was ist denn mit deinem Urlaub?«
Anni blickte vom Bildschirm auf. Sie sah nicht so überrascht aus, wie sie klang.
»Später.« Niels breitete die Arme aus. »Du hast gesagt, es ist da.«
»Was?«
»Das Fax aus Venedig.«
»Ja, ja.« Sie stand auf.
»Bleib ruhig sitzen.« Niels versuchte, sie aufzuhalten. »Ich mach das schon.«
Sie überhörte ihn und folgte ihm. Niels ärgerte sich. Annis Neugier war legendär, aber nicht ohne Charme, doch jetzt konnte er das überhaupt nicht gebrauchen.
Das Präsidium war fast vollkommen verwaist. Die Großraumbüros mit ihren Flachbildschirmen, ergonomischen Stühlen und höhenverstellbaren Tischen in skandinavischem Design erweckten eher den Eindruck, man befände sich in einer Werbeagentur statt in einer Polizeiwache. Aber war der Unterschied wirklich so groß? Niels hatte da bisweilen so seine Zweifel. Worte wie ›Imagepflege‹, ›Branding‹ und ›Signalwert‹ waren in manchen Sitzungen wichtiger als die guten, alten Polizeithemen. Die Chefs waren zu Promis geworden, und der Polizeidirektor musste sich derart intensiv mit den Medien auseinandersetzen wie sonst nur Stand-up-Komiker und Popsternchen. Niels wusste genau, wieso das so war. Die Polizei war eine der wichtigsten politischen Kampfzonen der Gesellschaft geworden. Das zeigten unzählige Untersuchungen. So hatte die Polizeireform aus dem Jahr 2007 mehr Schlagzeilen generiert als all die Steuerreformen der letzten Jahre zusammen. Jeder noch so gleichgültige politische Hinterbänkler konnte dank der Beratung seines Spin-Doctors über die Wichtigkeit der Wertedebatte noch im Schlaf seine Meinung über die Polizei und ihre Aufgaben abgeben. Auch wenn sein Wissen über die Polizeiarbeit einzig und allein auf ein paar Folgen von Miami Vice beruhte.
»Warte nur, bis du dieses Fax siehst.« Anni sah ihn gespannt an, als sie die Tür des Computerraumes öffnete. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Der Computerraum hatte nicht viel mit einem Computerraum zu tun. Im Gegenteil, abgesehen von der Toilette war das der einzige Raum des Hauses, in dem kein einziger Computer stand, was immer Anlass zu Witzen bot. Aber dort waren die Drucker, Faxgeräte und Kopierer platziert worden. Es roch nach Chemikalien, Ozon und Tonerstaub, der einem mit der Sicherheit eines Uhrwerks schon nach wenigen Minuten in diesem Raum Kopfschmerzen bescherte.
»Da«, sagte sie und streckte den Arm aus. »Das reinste Telefonbuch!«
Niels traute
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