Die Auserwählten
Abdul Hadi. Niels nahm sein Notizbuch heraus und blätterte bis zu seinen Aufzeichnungen über Abdul Hadi vor. »Der Mord in Mumbai. Wann war der?«
Hannah ging die Akte durch. Niels half ihr:
»Sie haben das Datum auf die Karte geschrieben.«
»Ach ja.« Sie fand die Nadel in Indien. »Raj Bairoliya. Am 12. Dezember. Stimmt was nicht?«
»Ach, das ist sicher nur ein Zufall.«
»Ein Zufall?«
»Ich rufe später an.« Niels war bereits durch die Tür. Sie rief ihm noch etwas nach, aber er hörte es nicht mehr. Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Abdul Hadi war am 12. Dezember in Mumbai gewesen.
***
Hannah sah Niels nach, als er rückwärts bis zur Straße hinauffuhr. Sie warf einen Blick auf sein Nummernschild. II 12 041.
»Das kann doch kein Zufall sein«, sagte sie zu sich selbst.
32.
32.
Ospedale Fatebenefratelli, Venedig »Achtzig Cent.«
Tommasos Mutter hatte die letzten zwei Stunden sehr unruhig geschlafen. Jedes Mal, wenn Schwester Magdalena zu ihr hereingeschaut hatte, hatte sie im Schlaf gemurmelt. Doch jetzt hörte sie zum ersten Mal, was Tommasos Mutter sagte: »Achtzig Cent.«
»Warum sagen Sie das immer, Signora di Barbara?«
»Er darf die achtzig Cent nicht bezahlen.«
»Wer?«
»Mein Sohn.«
Die Alte versuchte, ihren Arm unter der Decke hervorzuziehen. Magdalena half ihr, und Tommasos Mutter nahm ihre Hand. Sie hatte noch immer Kraft.
»Sagen Sie ihm das.«
»Ja. Was soll ich sagen?«
»Dass er die achtzig Cent nicht bezahlen darf.«
»Warum nicht?«
»Weil er dann stirbt.«
»Wie bitte?«
Die Alte schüttelte den Kopf.
»Was soll denn achtzig Cent kosten?«
Mit bebender Stimme antwortete sie: »Das kann ich nicht sehen.«
Schwester Magdalena nickte. So war es oft. Meist konnten die Sterbenden nur einen kleinen Ausschnitt von der Zukunft und dem Leben nach dem Tod sehen. Nie das große Ganze, sondern immer nur Fragmente. Signora di Barbara beruhigte sich wieder. Vielleicht sah sie im Schlaf ein etwas präziseres Bild von dem, was ihr Sohn nicht kaufen durfte. Es gab vieles, das achtzig Cent kostete. Pasta. Milch. Ein Espresso. Magdalena ging zurück ins Schwesternzimmer und rief Tommaso an. Er ging nicht ans Telefon.
33.
33.
Synagoge, Kopenhagen
Sie sah wie eine Festung aus.
Das war Niels’ erster Gedanke, als er in der Krystalgade aus dem Auto stieg und die Synagoge betrachtete, die hinter einem hohen Gitterzaun lag. Schwarzes Schmiedeeisen. Zwei zivile Wachleute standen an jedem Ende der Straße und traten von einem Bein aufs andere, um sich warm zu halten. Sie waren von der jüdischen Gemeinde eingestellt worden. Der Grund dafür stand in Form von Graffiti an der Mauer: »Freiheit für Palästina! Jetzt!« Und darunter: »Die Klagemauer – Palästina hat zu klagen!« Niels dachte an die hohen Geldsummen, die freigegeben werden würden, wenn der Konflikt endlich beigelegt wurde. Erst kürzlich hatte er eine Debatte im Radio gehört, in der es allen Ernstes um die Frage gegangen war, ob man nicht die Hälfte des ›Israels-Platz‹ in Kopenhagen in ›Palästina-Platz‹ umbenennen sollte. Von allen Konflikten auf dieser Erde war die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina derjenige, der am einfachsten exportiert werden konnte.
Niels klingelte am Tor und wartete.
»Niels Bentzon, Polizei Kopenhagen.«
»Einen Augenblick, bitte.«
Niels wartete wieder. Der Informationstafel entnahm er, dass das Gebäude mehr als einhundertfünfundsiebzig Jahre alt war. Die zwölf charakteristischen Säulen repräsentierten die zwölf Stämme Israels. »Sie sind weit gekommen, diese zwölf Stämme«, sagte Niels zu sich selbst. Die Synagoge lag etwas zurückgezogen, fast bescheiden, gemessen an den umliegenden Gebäuden. Die Tatsache, dass es ein jüdisches Gotteshaus mitten in Kopenhagen gab, war ein heißes Eisen und führte immer wieder zu Diskussionen. Aktuell ging es um das Recht der Muslime auf eine große Moschee in Kopenhagen – ein höchst brisantes Thema.
Endlich öffnete sich das Tor mit einem leisen Summen. Niels trat ein, und das Tor schloss sich ebenso leise hinter ihm. Einen Augenblick lang wusste er nicht, in welche Richtung er gehen sollte, doch dann hörte er eine Stimme:
»Hierher! Kommen Sie hierher.« Ein Mann Anfang fünfzig kam ihm lächelnd über den kleinen Parkplatz entgegen, der neben der Synagoge lag. Niels erkannte den Oberrabbiner sofort an seinem grau melierten Vollbart, er hatte ihn schon mehrfach im Fernsehen gesehen.
»Niels
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