Die Auserwählten
»Und im Talmud tauchen diese sechsunddreißig guten Menschen auf?«
»Nennen wir sie die Gerechten. Das passt besser. Tzadikim heißt gerecht. Die sechsunddreißig Gerechten.«
»Warum ausgerechnet sechsunddreißig? Achtzehn ist heilig und …?«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.« Wieder dieses Raubtierlächeln. »Die achtzehn ist eine heilige Zahl, und warum es ausgerechnet sechsunddreißig sind – also das Doppelte –, weiß eigentlich niemand so recht. Es gibt allerdings auch die Theorie, dass jeder von ihnen für zehn Tage des Jahres zuständig ist. Sechsunddreißig. Dreihundertsechzig. Aber dann wäre es logischer, wenn das etwas mit Astrologie zu tun hätte. Dass jeder einen Winkel von zehn Grad auf dem Erdball abdeckt.« Er breitete die Arme aus. »Ich muss Ihnen die Antwort schuldig bleiben. Aber ich weiß, dass man sie in der jüdischen Folklore häufig als die versteckten Heiligen bezeichnet. Lamedwowniks auf Jiddisch.«
»Aber die Guten …. Sorry, die Gerechten wissen selbst gar nicht, dass sie gerecht sind?«
»Sie wissen ja mehr darüber als ich selbst. Nein, die Gerechten wissen nicht, dass sie zu den Gerechten gehören. Das weiß nur Gott.«
»Und wie kann man dann wissen, um wen es sich handelt?«, fragte Niels.
»Vielleicht soll man das ja gar nicht wissen?«
»Sind es immer sechsunddreißig?«
»So ist das zu verstehen, ja.«
»Und was passiert, wenn einer von ihnen stirbt?«
»Wenn alle sterben, geht die Menschheit unter. Laut der in Hollywood so beliebten Kabbalah stirbt sogar Gott, wenn alle sechsunddreißig verschwinden.«
»Und es sind sechsunddreißig in jeder Generation?«
»Genau. Sechsunddreißig, die gemeinsam die Sünden und Bürden der Menschheit auf ihren Schultern tragen. So in etwa.«
»Darf ich fragen, ob Sie selbst daran glauben?«
Der Rabbi dachte einen Augenblick nach. »Der Gedanke gefällt mir gut. Sehen Sie sich die Welt an. Krieg, Terror, Hunger, Armut und Krankheiten. Nehmen Sie zum Beispiel den Nahost-Konflikt. Eine Gegend auf dieser Welt mit so viel Hass, so viel Frustration, dass hinter jeder Ecke ein neuer Attentäter steht. Checkpoints und Mauern sind zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden. Wenn ich hier aus meinem kleinen, dänischen Elfenbeinturm auf so eine Welt schaue, gefällt mir der Gedanke sehr, dass es wenigstens – wenigstens – sechsunddreißig Gerechte auf der Welt gibt. Kleine Säulen in Menschengestalt, die sicherstellen, dass wir uns ein Minimum an Güte und Gerechtigkeit bewahren.«
Niels schwieg nachdenklich.
»Suchen Sie nach einem Mörder?«, fragte der Rabbiner plötzlich.
Niels fühlte sich überrumpelt. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Der Rabbi hakte nach: »Oder nach einem Opfer?«
34.
34.
Helsingør
Hannahs Versuch, die leere Zigarettenschachtel in den Mülleimer zu werfen, missglückte, und sie landete mitten im Raum. Hannah blieb sitzen und starrte auf die Karte und die mittlerweile seitenlangen Notizen, die sie sich gemacht hatte. Sie sah nicht die Spur eines Zusammenhangs zwischen den Tatorten. Es gab weite Bereiche, die größtenteils verschont geblieben waren. Dafür häuften sich die Morde in anderen Regionen, wie im Nahen Osten mit Mekka, Babylon und Tel Aviv. Einen Augenblick lang bereute sie das Ganze. Vielleicht sollte sie Niels einfach anrufen und ihm sagen, dass sie aufgab? Diese Sache hatte schließlich nichts mit ihr zu tun. Irgendetwas hielt sie aber zurück. Zuerst glaubte sie, dass es das System war. Denn daran, dass es ein System gab, zweifelte sie nicht. Sie musste es nur finden. Und rätselhafte Systeme hatten sie schon immer angezogen. Die Suche nach dem Schlüssel, mit dem man das Schloss öffnen beziehungsweise das Geheimnis knacken konnte.
Wenn sie doch nur noch Zigaretten hätte. Wenn sie doch …
Sie sind kinderlos, schoss es ihr durch den Kopf. Alle Opfer waren kinderlos. Gab es noch andere Ähnlichkeiten? Sie blätterte in ihren Notizen. Religion? Nein, es gab sowohl Christen als auch Juden, Muslime, Buddhisten, Atheisten und sogar einen Baptistenpfarrer aus Chicago. Hautfarbe? Nein. Alter? Sie zögerte. Das war möglich. Sicher nicht entscheidend, aber jeder kleine Fortschritt war willkommen. Alle Opfer waren zwischen vierundvierzig und fünfzig. Ein Zufall? Vielleicht. Aber deshalb war es nicht weniger interessant. Die Jahre in der Forschung hatten Hannah gelehrt, dass das, was auf den ersten Blick wie ein Zufall aussah, häufig das genaue Gegenteil war.
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