Die Auserwählten
Niels war sich nicht sicher, ob sie ihm zuhörte.
»Dieser Italiener, Tommaso di Barbara, scheint aber doch ein gründlicher Mann zu sein. Wie hat er das ganze Material denn zusammentragen können?«
Hannah starrte auf die Weltkarte, in der die einundzwanzig Nadeln steckten: die registrierten Morde. Eine Welt aus Schicksalen, umgeben von dem Qualm ihrer Zigarette.
Sie war vollkommen in Gedanken versunken und redete monoton: »Cosco, Rio, Tel Aviv, Nairobi, Johannesburg, Chicago, Thunder Bay, Mc Murdo, Peking …«
»Was ist mit den Zeitpunkten?«, unterbrach Niels sie.
»Sieben Tage Zwischenraum, soweit ich das sehen kann.« Sie starrte auf die Karte. »Von einem Mord zum anderen sind jeweils sieben Tage vergangen.«
»Und gibt es sonst noch Übereinstimmungen bei den Zeitpunkten? Wie sieht es mit der Tageszeit aus?«
Sie zögerte. Drückte ihre Zigarette auf der Untertasse aus. »Schwer zu sagen. Nur ein Mord konnte einer genauen Uhrzeit zugeordnet werden.«
»Oder ist das alphabetisch?«
»Moment, Moment.«
»Was?«
Eine Minute verging. Sie saß so still, dass Niels an eine Wachsfigur denken musste. Endlich sagte sie:
»Sonnenuntergang. Ich bin mir so gut wie sicher.«
Sie blätterte die Akten durch. Niels war kurz davor, die Geduld zu verlieren, als sie endlich sagte: »Die Morde sind im Abstand von sieben Tagen begangen worden, jeweils freitags, aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Zeitpunkt, zu dem an dem jeweiligen Ort die Sonne untergeht. So muss es sein.«
»Und was bedeutet das?«
Keine Antwort.
»Was ist mit dem Abstand zwischen den Tatorten?«, fuhr er fort. »Diese dreitausend Kilometer. Stimmt das?«
Noch immer keine Antwort. Niels spürte, dass er mit seinen Fragen störte, trotzdem konnte er sich nicht beherrschen: »Hannah. Diese dreitausend Kilometer … oder sehen Sie andere Zusammenhänge?«
Endlich hob sie den Kopf.
»Ich verstehe nicht, wo das mit den ›guten Menschen‹ herkommt. Wir sind jetzt die Opfer durchgegangen – also die, über die es einen Bericht gibt. Es kann durchaus sein, dass Ärzte und Entwicklungshelfer überproportional vertreten sind, aber es waren bei weitem nicht alle karitativ tätig. Der Israeli war Gymnasiallehrer und vorher Soldat.« Sie änderte ihre Strategie. »Was hat der Italiener über die Bibel gesagt?«
»Die sechsunddreißig Gerechten. Angeblich ein jüdischer Mythos.«
»Jetzt bereue ich zum ersten Mal, dass ich im Religionsunterricht nicht richtig zugehört habe. Was besagt dieser Mythos?«
»Das weiß ich auch nicht.« Niels zuckte mit den Schultern. »Aber eine glaubwürdige Spur ist das doch wohl nicht?«
»Was ist schon eine glaubwürdige Spur? Nur um ihre Rangordnung zu verstehen.«
»Es gibt keine Logik in der Wahl der Opfer. Wir könnten problemlos Menschen benennen, die sich besser verhalten haben. Viel besser.«
»Ich weiß nicht. Sehen Sie sich die Karte an.« Sie streckte ihren Arm aus. »Auch die ergibt keinen Sinn. Trotzdem glauben wir, dass ein Zusammenhang besteht. Vielleicht sollten wir uns gar nicht erst die Frage stellen, ob das für uns Sinn ergibt.«
Niels betrachtete die Karte. Sie hatte Recht: Die Frage war, ob es für den Mörder Sinn ergab.
Hannah hatte sich inzwischen an den Computer gesetzt. »Thirty-six righteous men – steht das so in den Unterlagen?« Noch bevor Niels die Seite herausgesucht hatte, las Hannah bereits aus Wikipedia vor:
»Tzadikim Nistarim. Die verborgenen Gerechten heißt das. Gottes Gerechte auf Erden. Einige glauben sogar, dass die Welt untergeht, wenn nur einer dieser Gerechten fehlt.«
»Das können wir hiermit widerlegen.« Niels lächelte.
Sie fuhr fort: »Andere glauben, dass erst alle sechsunddreißig sterben müssen, bevor die Menschheit untergeht. Hier steht einiges darüber.« Sie schrieb ihm die Webadresse rasch mit kindlicher Schrift auf: http://en.wikipedia.org/wiki/Tzadikim_Nistarim
»Ich werde mich mal damit beschäftigen. Heißt der nicht Weizman?«
»Wer?«
»Der Oberrabbiner in der Krystalgade.«
»Sie können das doch hier lesen.«
Niels stand auf. »Mag ja sein, dass sich ein Großteil der Welt sein Wissen aus Wikipedia beschafft.« Er stockte. Fühlte sich klar unterlegen, wie ein koda, der neben einem Ferrari parkte. Vielleicht klang er deshalb so gereizt, als er fortfuhr: »Aber bei Mord muss man doch immer raus und richtig ermitteln.«
Er legte seine Sachen in eine kleine Mappe. Kugelschreiber, Handy, Kalender, Notizen. Sein Blick fiel auf den Namen
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