Die Auserwählten
stammt dieser Mythos? Wenn man das denn als Mythos bezeichnen kann.«
»Wie Sie wollen.« Er zuckte mit den Schultern. »Tzadikim Nistarim. Die sechsunddreißig Gerechten.« Er machte eine kurze Pause und dachte nach. »Das kommt aus dem Talmud.«
»Der mystischen Tradition des Judentums, der Kabbalah?«
»Nein, nein, zum Glück nicht, sonst würden wir lange Haare kriegen, bis wir fertig wären. Und dann wären wir vermutlich auch vollkommen vergeistigt.« Er lächelte. »Die Kabbalah überlassen wir Hollywood – es ist immer gut, die in der Hinterhand zu haben, wenn man keinen ordentlichen Schluss findet.« Er lachte.
»Talmud?«
»Ja. Der Talmud ist die mündliche Lehre der Juden. Es handelt sich um Kommentare zur Tora, die ursprünglich auf Aramäisch niedergeschrieben waren, und nicht auf Hebräisch, obschon die beiden Sprachen miteinander verwandt sind. Bevor das Hebräische bei der Gründung des Staates Israel, bei der es zur offiziellen Amtssprache erhoben wurde, eine Renaissance erlebte, wurde diese Sprache über viele Jahre eigentlich nur für Gebete und Gottesdienste genutzt. Aber wir waren beim Talmud.« Er machte eine kurze Pause und überlegte, wie er fortfahren wollte. »Der Talmud besteht aus der Mishna und der Gemara. Die Mishna umfasst Gottes Worte, exakt so, wie Moses sie empfangen hat. Die Gemara sind die Kommentare und Diskussionen der Rabbis über die Mishna. Es gibt zwei Versionen des Talmud: Jerushalmi und Bavli. Das Judentum basiert auf dem Talmud Bavli. Der Talmud ist ein einzigartiges Werk. Er besteht aus einundzwanzig Bänden à tausend Seiten, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 begonnen wurden. Die Rabbiner fürchteten damals, das Judentum könne zugrunde gehen, so dass man sich entschloss, die Gesetze und Lebensregeln niederzuschreiben, die damals die Basis für das Judentum bildeten. Dieses Werk diskutierte alles zwischen Himmel und Erde. Sämtliche politischen, juristischen und ethischen Fragen. Man könnte es auch als eine Sammlung von Rechtsprotokollen bezeichnen. Wie sollen wir uns verhalten? Wer hat bei den diversen Streitfällen Recht?«
»Zum Beispiel?«
»Das ist ganz banal.« Er dachte nach und schlug langsam die Beine übereinander. »Es könnte zum Beispiel um einen Mann gehen, der seinen Stock verloren hat. Und denken Sie daran, der Talmud stammt aus einer Zeit, in der es noch keine Rollatoren gab.« Er lächelte wieder. »Sagen wir, der Mann hat seinen Stock irgendwo auf dem Marktplatz vergessen und kommt – aus unerfindlichen Gründen – erst drei Monate später wieder zurück. Inzwischen wird der Stock von einer alten Frau genutzt. Hat sie das Recht dazu? Oder gehört der Stock noch immer dem Mann? Was heißt es, etwas zu besitzen? Ebenso gut könnte es auch um ein Stück Land gehen.«
»Eigentumsrecht?«
»Zum Beispiel. Ein Mann verlässt sein Haus, um … was weiß ich? Er kann viele Gründe haben. Krieg, Hunger, was auch immer. Als er drei Jahre später zurückkommt, ist das Haus von jemand anderem bewohnt. Wer hat jetzt das Recht, in dem Haus zu wohnen?«
»Da scheint viel zu holen zu sein.«
»Und ob. Viele Sachverhalte sind aber von prinzipiellem Charakter. Hat man eine Lösung für den einen Fall gefunden, sollte es möglich sein, Parallelen zu einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle zu ziehen.«
»Ungefähr so wie im modernen Rechtssystem?«
»Kann man sagen, ja. Der Talmud greift die Diskussionen der Rabbis in den Jahren hundert bis fünfhundert auf und verwendet eine besondere Mnemotechnik. Der essayistische, assoziative Stil baut auf Allegorien und Parabeln, die das Werk besonders offen für Interpretationen machen. Bemerkenswert ist, dass jeder Band mit einer Art Beweis beginnt. Einer Schlussfolgerung aus einem bestimmten Problem. Etwa so, wie wir es aus der Mathematik kennen. Danach folgt dann der Weg, der zu dieser Schlussfolgerung geführt hat. Das ist häufig ein langer, schwieriger Weg.« Er lächelte wieder. »Der Talmud ist was für Menschen mit viel Zeit. Und dicken Brillen.«
»Die habe ich nicht. Viel Zeit.«
»Das ist klar. Wäre der Talmud ein Werk aus der heutigen Zeit, wäre es wohl schwierig, einen Verlag dafür zu finden. Heute können die Dinge ja nicht schnell genug gehen. Wir haben so eine verfluchte Angst, etwas zu verpassen. Und genau deshalb verpassen wir vieles. Klinge ich wie ein alter Mann? Das sagen meine Kinder jedenfalls immer.« Er lachte.
Niels schmunzelte, wollte aber zur Sache zurückkommen.
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