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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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die Straße. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, jemanden mit in den Tod zu nehmen. Eigentlich war ihm das egal gewesen, aber von hier oben sahen alle so unschuldig aus. Wenn er etwas weiter nach links sprang, würde er niemanden treffen.
    »One question!«, sagte der Polizist.
    Abdul Hadi sah ihn an.
    »Do you have family?«
    »I did this for my family.«
    Der Polizist sah ihn verständnislos an.
    »Anyone you want to call?«, fragte der Polizist. »Remember: I am the last person to see you alive.«
    Abdul Hadi wich leicht vor dem Polizisten zurück. Das waren seltsame Fragen, fand er.
    »Your last message? What is it?«
    Eine letzte Nachricht? Abdul Hadi dachte nach. Über das Wort Entschuldigung. Er hätte sich gern bei seiner Schwester entschuldigt. Dafür, dass sie nicht älter geworden war, sondern er diese Jahre bekommen hatte. Das erschien ihm ungerecht. Und er wollte sich bei seinem älteren Bruder dafür entschuldigen, dass er seinen Tod nicht hatte rächen können. Sein Bruder hatte nichts anderes gewollt als ein Leben in größerem Wohlstand. Er hatte nichts getan. Wie seine kleine Schwester. Auch sie war unschuldig gewesen. Wie deutlich er ihr Gesicht sah. Bruder und Schwester standen parat, ihn in Empfang zu nehmen. Dessen war er sich sicher. Er freute sich, sie wiederzusehen.
    Der Polizist war näher an ihn herangerückt. Er flüsterte Hadi zu: »I won’t close my eyes. Do you hear me?«
    Dann streckte er den Arm aus. »I am your last witness.«
    Das war jetzt der Moment, in dem Abdul Hadi springen sollte. Jetzt. Er sah zu seinem Schöpfer auf, zu den verstorbenen Familienmitgliedern, die bereitstanden. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wäre der Himmel auf dem Weg zu ihm nach unten, landete zuerst auf dem dänischen Polizisten, dann auf Hadi und schließlich unten auf der Straße. Millionen von winzigen weißen Himmelsfetzen tanzten mit einem Mal wirbelnd durch die Luft. Die Menschen auf der Straße blickten auf, und die Kinder jubelten. Dann hörte Abdul Hadi ein Klicken, als sich die Handschellen entschlossen um seine Handgelenke legten.

44.
    44.
    Niels-Bohr-Institut, Kopenhagen
    Die alten Holzböden knackten und knarzten, als der größte Globus des Instituts über den Flur gerollt wurde. Er war so groß, dass Hannah sich nicht bücken musste, um ihn zu schieben, sondern wie hinter einem etwas unhandlichen Kinderwagen laufen konnte. Ein Holzsplitter platzte aus dem Türrahmen, als der Globus dagegenstieß. Zwei Wissenschaftler, die von der Mittagspause zurückkamen, mussten zur Seite springen, um nicht überrollt zu werden.
    »Uih, uih, uih, haben Sie ’nen Führerschein dafür?«, fragte einer der beiden lachend.
    »Ich muss nur etwas vermessen.« Hannah wurde nicht langsamer. Sie hörte, wie der andere raunte, sie solle nicht ganz normal im Kopf sein. »Hannah Lund heißt die. Sie war früher mal eine der besten hier, aber dann ist irgendwas mit ihr passiert .«
    »Was macht die denn dann hier?«
    Hannah bog um die Ecke und nahm Kurs auf das Auditorium. Einen Augenblick lang fürchtete sie, der Globus könne nicht durch die Tür passen, doch es ging alles glatt. Sie nahm die Alufolierollen aus der Tasche, die sie unten in der kleinen Küche der Kantine gefunden hatte, und begann, den Planeten mit Silberpapier einzuwickeln. Sie arbeitete rasch und konzentriert. Dann klebte sie die ausgeschnittenen Kontinente auf den Globus, platzierte sie aber nicht dort, wo sie heute lagen. Sie versammelte alle Erdteile rings um den Südpol und steckte die Nadeln hinein. Nun bildeten sie eine andere Formation als zuvor. Hannah betrachtete ihr Werk und bemerkte: »So hat die Welt seit ihrer Schöpfung nicht mehr ausgesehen.«

45.
    45.
    Heiliggeistkirche, Kopenhagen
    »Den haben Sie sich verdient.«
    Der Pastor stellte das Glas vor Niels auf den Tisch und schenkte auch sich etwas ein. »Das war knapp.«
    Der goldene Alkohol brannte in Niels’ Mund. Als er das Glas wieder abstellte, schimmerte die Flüssigkeit hellrot. Sein Mund blutete. Aber die Zähne waren alle noch an ihrem Platz, und seine Nase war nicht gebrochen.
    »Sie sollten lieber noch bei der Ambulanz vorbei.« Rosenberg versuchte ruhig zu wirken.
    Niels kannte diese Reaktion. Sie war typisch für jemanden, der sich in einer lebensbedrohlichen Situation befunden hatte. Entweder brach das Opfer vollkommen zusammen und tat nichts, um dies zu verbergen, oder es reagierte genau umgekehrt: ›Also, so schlimm war das doch auch nicht. Es ist schon

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